Die Meister des Kirchenneubaus zur Barockzeit
von bis
1717 1729
1717 1729
1717 1729
1720 1729
1724 1729
1730 1766
1751 1751
1750 1751
1770 1771
1771 1771
1780 1780


Pfarrkirche St. Nikolaus in Murnau am Staffelsee

Der Markt Murnau und das Kloster Ettal
1332 arrondiert Ludwig der Bayer, der erste Wittelsbacher auf einem Kaiserthron, den Grundbesitz seines neu gegründeten Klosters Ettal mit Pfarreien im Tal der Loisach und mit dem wichtigen Marktflecken Murnau am Staffelsee. Der Ort liegt an der Handelsstrasse von Augsburg über Landsberg, Wessobrunn und Weilheim ins Tirol. [1] Die Herrschaft über Murnau bleibt bis 1803 bei der Benediktinerabtei Ettal, aber schon 1350 erhält der Ort die Marktfreiheit. Während Ettal im Bistum Freising liegt, gehört Murnau zum Bistum Augsburg.
Die vom Friedhof umgebene Pfarrkirche des hl. Nikolaus liegt noch im frühen 19. Jahrhundert einsam auf einer Anhöhe östlich des langgezogenen Strassen- und Marktortes. Auf gleicher Höhe liegt nördlich in kurzer Entfernung das Pflegschloss der Abtei Ettal. Beide Bauten werden 1774 von der Brandkatastrophe verschont, der alle Gebäude des Ortes, die Marktkirche und auch das Pfarrhaus mit allen Pfarrakten zum Opfer fallen.

«Marckth Murnau». Stich in Michael Wening: «Historico-topographica descriptio…Theil I», München 1701. In der Ansicht aus Westen sind erhöht im Hintergrund das Pflegschloss und die Pfarrkirche vor ihrem Neubau mit dem hohen spitzen Turm zu sehen. Bildquelle: ETH-Bibliothek Zürich.

Wallfahrt zur Muttergottes von Murnau
Auf dem Hochaltar der Pfarrkirche von Murnau ist in einem Rokokoschrein das Gnadenbild der schmerzhaften Muttergottes angebracht. Die bekleidete Skulptur der von sieben Schwertern durchbohrten Maria, eine Weilheimer Arbeit um 1600, steht bis 1718 in der Totenkapelle des Friedhofs bei der Kirche.[2] Schon früh setzt eine Wallfahrt zum Gnadenbild ein, das zudem 1703 sichtbar geweint haben soll. 1718 wird es wegen der zunehmenden Wallfahrt auf den Kreuzaltar des damals noch bestehenden Chors der alten Pfarrkirche versetzt. Nach einem erneuten Tränenwunder nimmt die Wallfahrt zu und veranlasst den Abt von Ettal 1777 zum Versetzen des Gnadenbildes auf den Hochaltar. Noch heute erzählen viele Votivbilder in der Pfarrkirche von der Volkstümlichkeit der Murnauer Wallfahrt.

Bau- und Ausstattungsgeschichte des 18. Jahrhunderts

Neubau der Pfarrkirche im 18. Jahrhundert
Abt Placidus Seitz[3] von Ettal beschliesst kurz nach dem Friedensschluss in Rastatt und Baden und der 1715 erfolgten Rückkehr des bayerischen Kurfürsten aus dem französischen Exil den Neubau der Pfarrkirche Murnau. Der Abt ist selbst erfahrener Bauherr und noch immer mit dem Neubau der Klosteranlage Ettal beschäftigt. Als Leiter aller Bauvorhaben der Abtei Ettal setzt er 1716–1729 den Salzburger Benediktinerpater Roman Dechamps ein.[4] Dessen Einsatz in Ettal deckt sich zeitgleich mit dem Neubau der Pfarrkirche Murnau. Ihr Vorgängerbau ist eine einfache gotische Saalkirche mit schlankem Turm und Spitzhelm. In der Ansicht des Marktes Murnau aus Westen stellt sie Michael Wening 1701 im Hintergrund dar. In dieser wahrscheinlich einzigen Ansicht der Vorgängerkirche ist der Turm zu schlank und das Langhaus der Vorgängerkirche wenig aussagekräftig gezeichnet. Mit Ausnahme des Chors und des Kirchturms werden der gotische Bau und seine angefügten Kapellen 1717 abgebrochen, am 6. September des gleichen Jahres legt Abt Placidus den Grundstein zur neuen Kirche. Quellen zum Bauverlauf fehlen.[5] Genannt werden nur Eckdaten, und als einzige Beteiligte der ausführende Murnauer Maurermeister Caspar Bauhofer[6] mit dem Bernrieder Zimmermeister Johann Pföderl.[7] Planer und Bauleiter der anspruchsvollen Architektur bleiben unbekannt.
Auf die weiteren, spekulativ gehandelten Namen der Planungs- und Bauleitungsbeteiligten wird im Thema der Baumeisterfrage im Baubeschrieb eingegangen.
1721 ist der Rohbau des Langhaus-Arkadenoktogons mit der grossen Kuppel abgeschlossen.  Dann sind die Geldmittel der Kirchenstiftung erschöpft. Noch kann um 1724 der Raumstuck aufgebracht werden, der dem Wessobrunner Johann Baptist Zimmermann[8] zugeschrieben wird. Dann ist für ein Jahr Bauunterbruch. Die Ostarkade des grossen Kuppelraums wird nun mit einer Bretterwand beim bestehenden Turm geschlossen, damit der gotische Chor, der bisher dem Gottesdienst noch gedient hat, abgebrochen werden kann. Die bestehende Ausstattung kommt in das neue Oktogon. Mit dem Chorneubau kann erst nach dem Erschliessen neuer Geldquellen 1727 begonnen werden. 1729 ist der Raum stuckiert. Auch diese Stuckaturen werden Johann Baptist Zimmermann zugeschrieben. 1730 kann bereits der Hochaltar aufgerichtet werden. Nach der Erhöhung der gotischen Turmuntergeschosse durch eine neue Glockenstube ist der Bau 1731 vollendet.[9] Erst 1734 wird die Kirche durch den Augsburger Weihbischof Johann Jakob von Mayr eingeweiht.

Altarausstattung[10]

1. Altäre aus Altbeständen


Die Altäre werden nach dem Bezug des Neubaus vorerst aus der Vorgängerkirche und ihren Kapellen übernommen. Weil die Abtei Ettal ihren Hochaltar 1727 durch einen neuen Altar ersetzt, lässt sie den alten im Chor von Murnau aufstellen.[11] Die Datierungen der noch heute bestehenden fünf Seitenaltäre reichen von 1630 bis 1713. Ihre Altarbauer sind mit Ausnahme des Katharinenaltars nicht bekannt. Schon im 18. Jahrhundert, vor allem aber 1899-1902 werden die Seitenaltäre durch Überarbeitungen, Neufassungen und Umstellungen verändert. Gemeinsames Merkmal der fünf Seitenaltäre in Zweitverwendung sind ihre Ausführung in Holz und die Vollvergoldung des 19. Jahrhunderts. Folgende Altäre aus Vorgängerbauwerken stehen heute in der Kirche:
Rosenkranzaltar
Querachse Kirchenschiff Nord, Datierung um 1630/1771, Altarblatt 1853.

Der Rosenkranzaltar mit der heutigen Höhe von 10 Meter besteht aus einer triptychonförmig erweiterten Säulenädikula. Das Gebälk läuft über alle drei Achsen durch. Retabel dieses Typus (wie der Spätrenaissance-Altar von St. Martin in Rheinfelden, 1606) sind selten. Das nur wenig jüngere Retabel von Murnau wird 1770/71 im Zeitgeist umgebaut, wichtige Teile werden dabei entfernt. Aus der Rokokozeit stammt der Oberteil (der sogenannte Altarauszug), die beiden seitlichen Schweifungen (anstelle des typischen filigran geschnitzten Rankenwerks an den Flanken), die Verbreiterung der Predella, der vereinfachte und verbreiterte Sockel, sowie der neue Schrein vor der Predella. Das Altarblatt wird 1876 durch ein aus Rom geliefertes Gemälde der Rosenkranzspende (280 x 150 cm) von Johann Michael Wittmer (1802–1880) ersetzt. Der Verbleib des vorherigen Altarblattes ist unbekannt. Das Oberblatt (um 1770) zeigt die Hl. Dreifaltigkeit.
Die Herkunft dieses grossen, ehemals manieristisch-frühbarocken Altars wird in den älteren Führern mit dem Kloster Wessobrunn in Verbindung gebracht, aktuell aber als Retabel der abgebrochenen Rosenkranzkapelle an der Vorgängerkirche vermutet. Nur die neuere Vermutung könnte zutreffen, denn die 28 Altäre von Wessobrunn sind erforscht, eine Schenkung an Murnau ist unbekannt. Die Rosenkranzkapelle der Vorgängerkirche müsste aber, um einen solch mächtigen Altar zu beherbergen (er könnte ursprünglich noch höher gewesen sein) ein recht grosses Bauwerk gewesen sein. Auszuschliessen ist dies nicht. Weil an der heutigen Stelle des Rosenkranzaltars in der Weiheurkunde 1734 ein Marienaltar genannt wird, und offenbar die Patroziniums-Lokalisierung in der Weiheurkunde nicht in Frage gestellt wird, bestehen selbst an der neueren Vermutung Zweifel. Könnte es sich vielleicht sogar um den alten Hochaltar handeln?
Katharinenaltar
Querachse Kirchenschiff Süd. Datierung 1713, Altarblatt 1876.

Der Katharinenaltar (Höhe heute 9 Meter) stammt aus der erst 1708 begonnenen Katharinenkapelle. Er ist mit 1713 datiert und wird 1841 zu Aufnahme des «Heiligen Leibes» der Victoria umgestaltet und auch erhöht. Trotz der Bauzeit am Ende des Hochbarocks behält er die architektonischen Gestaltungsprinzipien des Frühbarocks bei. Altarbauer des Retabels von 1713 ist Balthasar Zwinck aus Uffing. Bildhauer ist Joseph Hagn (1685–1764). Das Altarblatt (Übertragung des Leichnams der hl. Katharina durch Engel auf den Berg Sinai, Gr. 300 x 150 cm) malt 1853 Johann Michael Wittmer (1802–1880) noch in Rom. Das barocke Oberblatt des Katharinenaltars ist nicht mehr lesbar. Das 1853 eingepasste Blatt Wittmers ersetzt ein hochbarockes Werk des Malers Simon Bernhardt[12] Dieses Altarblatt (von bedeutend höherer Qualität) hängt heute museal in der Kirche Maria Hilf.
Antoniusaltar
Nordwestliche Diagonalnische Kirchenschiff, Datierung um 1700, Altarblatt 1701.

Der Antoniusaltar ist ein einfaches hochbarockes Säulenretabel um 1700, das einzige der älteren Ausstattung mit Akanthusranken. Das Altarblatt (hl. Antonius als Fürbitter) stammt von Georg Asam (1649–1711), der sich noch bis 1701 in der Region München aufhält. Das ovale Oberblatt (Aloisius von Gonzaga) ist ein Andachtsbild des 19. Jahrhunderts.
Michaelsaltar
Chor-Nordkonche, Datierung Ende 17. Jahrhundert, Altarblatt 1781.

Der Michaelsaltar soll um 1650/75 gebaut worden sein. Er ist eine Säulenädikula, die mit dem gesprengtem Segmentgiebel im Auszug eine weitere Säulenädikula fasst. Das Altarblatt (der hl. Michael im Kampf mit Luzifer) ist ein Werk von Johann Michael Kassian Wittmer (1728–1792), der es 1781 in einfühlsamer Hell-Dunkel-Manier malt.

Schutzengelaltar,
Chor-Südkonche, Datierung Ende 17. Jahrhundert, Altarblatt 1877.

Der Schutzengelaltar ist eine Kopie des Michaelsaltars und stammt nach Sabine Klotz (Führer 2019) vom Ende des 17. Jahrhunderts, wirkt aber eher wie eine gleichzeitig mit dem Altarblatt von 1877 (Schutzengelgruppe, 200 x 130 cm) des Malers Johann Michael Wittmer (1802–1880) entstandene Neuschöpfung. Im Oberblatt die hl. Anna vor einem Porträt (!) der Maria.
Altarblatt an der Kirchenschiff-Rückwand. Hochbarock, um 1700. An der Kirchenschiff-Rückwand hängt ein ehemaliges Altarblatt aus einem unbekannten Altar. Es stellt die Heilige Sippe über dem träumenden Stammvater Jesse dar. Das hochbarocke Werk, vielleicht auch aus der Werkstatt Bernhardt, wird an Ort nicht erläutert und in allen Führern konsequent totgeschwiegen.

Neue Altarausstattungen ab 1727/30

Johannes-von-Nepomuk-Altar
Seitenaltar südwestliche Diagonalnische Kirchenschiff. Um 1720–1734.

Im viersäuligen, rötlich marmorierten Ädikula-Retabel steht eine Nepomukstatue. Das Oberstück (Auszug) im gesprengten Schweifgiebel enthält eine vergoldete Inschriften-Kartusche. Der Altar und die Bildhauerarbeit wirken für die Spätbarockzeit stark retardierend. (Datierung 1734 im Kunstführer 2019). Keine Datierung in älteren Kunstführern. Im «Dehio» (2006) geht der Altar vergessen.
Franz-Xaver-Altar
Seitenaltar nordöstliche Diagonalnische Kirchenschiff. (1734?), Umbau 1751.

Bereits im Weihejahr 1734 sollen die beiden vorderen Seitenaltäre in den östlichen Diagonalnischen des Gemeinderaums aufgestellt sein. Beides sind Bildhaueraltäre mit bewegter Ädikula-Säulenarchitektur, die schon in das Rokoko weist (vergleiche mit dem ebenfalls 1734 datierten Nepomukaltar!). Altarbauer oder Bildhauer sind unbekannt. Erst 1751 wird für die Umgestaltung und Umwidmung des Thomas-Altars zum Franz-Xaver-Altar der Bildhauer Franz Xaver Schmädl genannt.[13] Allerdings hat die Figuralplastik dieses Altars, die ihm 1734 (!) zugeschrieben wird, keinen Zusammenhang mit dem hl. Franz Xaver. Im Retabel ist die Mittelgruppe von Anna selbdritt und den hll. Joseph und Joachim, im «Auszug»  Christus mit dem ungläubigen Thomas dargestellt. Nur der 1751 in die Predella eingepasste Schrein mit Reliquien des hl. Franz Xaver erklärt das neue Patrozinium.
Sebastiansaltar
Seitenaltar südöstliche Diagonalnische Kirchenschiff. 2. Drittel 18. Jahrhundert.

Der südliche Sebastiansaltar ist in der Architektur mit dem nördlichen Franz-Xaver-Altar identisch, sein Aufstellungsjahr 1734 ist aber zu hinterfragen. [14] Die rötliche Marmorierung und die Fassung der Figuren erstellen 1794 Johann Michael Wittmer (1773–1802) und Johann Sebastian Seitz (1745–1819). Die weiss gefasste Figuralplastik wird heute, im Gegensatz zum Franz-Xaver-Altar, nicht Schmädl zugeschrieben.
Kreuzaltar
Heutiger Zelebrationsaltar. 2. Drittel 18. Jahrhundert.

Der Kreuzaltar steht schon in der Vorgängerkirche, und dann wieder von 1730–1968 in der Stufenfolge unter dem Arkadenbogen beim Choreinzug. Das grosse Kruzifix, das heute vor der Kommunionbalustrade steht, ist bis 1968 ein Bestandteil des Kreuzaltars. Auf ihm ist bis 1777 auch das Gnadenbild platziert. Heute dient der in der um zwei Stufen abgesenkten Chorebene freigestellt als Zelebrationsaltar. Die Mensa ist marmoriert, ihre vergoldeten Rocaillen weisen in das zweite Drittel des 18. Jahrhunderts.
Hochaltar
Ersatz von 1770/71 des 1730 von Ettal gelieferten Hochaltars. 1770/71 ersetzt ein neuer Hochaltar den 1730 von Ettal nach Murnau übertragenen alten Hochaltar der Ettaler Klosterkirche. Stifter des neuen Altars ist wieder die Abtei Ettal. Als Altarbauer gilt Bartholomäus Zwinck aus Murnau.[15] Fassmaler ist Johann Michael Kassian Wittmer (1728–1792). Für die reiche Figuralplastik und für den Tabernakelaufbau wird erneut Franz Xaver Schmädl als Bildhauer vermutet. Das Altarblatt signiert 1771 Johann Baptist Baader.[16] Weiteres zum Hochaltar siehe im Kapitel «Architektur».

Weitere Ausstattungen des 18. Jahrhunderts
Die Kistlerarbeiten des Innenraums sind weitgehend Ausführungen der Uffinger Werkstatt von Paul Zwinck und seinem Sohn Bartholomäus Zwinck. Um 1730 fertigen sie das Kirchengestühl und die Portalflügel. Gemäss neueren Angaben ist «ganz sicher» Paul Zwinck 1764 bis 1766 Schöpfer der Beichtstühle. Die einheitliche Gestaltung der Kommunionbank mit den beiden kleinen Rokoko-Chorgestühlen wird auch der Zwinck-Werkstatt zugeschrieben. Mit der letzten Arbeit des Hochaltars ist sie damit über 30 Jahre in der Pfarrkirche Murnau tätig.
Auch der ursprüngliche Orgelprospekt von 1750/51 ist ihr Werk. Das Instrument wird vom Orgelbauer Andreas Jäger aus Füssen geliefert.a[17]
Einzig die Kanzel ist kein Werk der Uffinger Werkstatt. Die noch immer dem Rokoko verhaftete Kanzel von 1780 wird heute dem Bildhauer Franz Hosp aus Imst im Tirol zugeschrieben.[18]
Mit dem Neubau der Orgel im Kriegsjahr 1805 sind wir bereits im 19. Jahrhundert angelangt.[19] Die Entscheidung, mitten im dritten Koalitionskrieg und kurz nach der Säkularisation des Klosters Ettal eine neue Orgel zu bauen, erstaunt. Offenbar finden sich aber, wie später auch für die erste Innenrenovation 1834 oder für den 1841 erfolgten Umbau des Katharinenaltars zur Aufnahme des «Heiligen Leibs» der Victoria immer genügend Spender.[20]

Veränderungen des Innenraums im 19. und 20. Jahrhundert

Die Kuppel- und Tonnengewölbe des Innenraums sind am Ende 18. Jahrhunderts zwar stuckiert, enthalten aber keine Deckenfresken. Obwohl auch bei wichtigen spätbarocken Kirchenräumen wie der Salzburger Kollegienkirche die Gewölbefresken fehlen, ist dies in Murnau wahrscheinlich eine Folge der Finanzknappheit beim Neubau der Kirche. Deshalb werden im Verlauf von mehreren grossen Eingriffen im 19. und 20. Jahrhundert alle Gewölbe mit Gemälden versehen. Zudem wird die Raumfarbigkeit mehrfach verändert und alle Ausstattungen dem jeweils wechselnden Zeitgeschmack angepasst. Unberührt bleibt nur die Raumarchitektur.

1870/72
Die Kirche wird erstmals in einer Zeit restauriert, in der man den Barock noch als verwilderte Renaissance betrachtet. Die Eingriffe von 1870/72 verändern vor allem den Chor mit seinen drei Konchen. Die Arbeiten werden durch den in Rom lebenden Historienmaler Johann Michael Wittmer aus Murnau[21] und dem bekannten Münchner Dekorationsmaler Joseph Anton Schwarzmann[22] ausgeführt. Wittmer malt in die Chorkuppel ein Gemälde mit den Themen Verkündigung, Geburt Christi, Christi Verklärung und Kreuzigung. Es ist durch vertikal auf einen Kuppelring zulaufende Scheingurten in vier der Thematik entsprechende Segmente geteilt. Auch die Camaïeu-Kartuschenbilder mit den vier Evangelisten könnten noch von Wittmer gemalt sein.[23] Schwarzmann malt gleichzeitig die länglichen, tafelbildähnlichen Darstellungen in den vier Quertonnen am Übergang zum Gemeinderaum und den drei Chorapsiden. Sie basieren auf Entwürfen von Wittmer und stellen die Erschaffung der Erde, die Erschaffung Adams, den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies dar. Schwarzmann gestaltet im Chor auch die Ornamentmalerei. Heute sind die Gewölbebilder und Ornamentmalereien von Wittmer und Schwarzmann nur noch in entstelltem Zustand vorhanden. Mehr dazu siehe im Kapitel Restaurierung 1968/70.

1893–1902
Ein Paradigmawechsel in der Beurteilung des Spätbarocks findet schon früh nach der Vollendung der Chorrestaurierung statt. Der Barock wird jetzt nicht mehr als abartige Renaissance betrachtet. Die Stilreinheit, was auch immer darunter verstanden wird, hat nun bei restaurativen Eingriffen Priorität. 1895 schreibt Gustav von Bezold zu St. Nikolaus, «Chor und Vierung sind mit Gemälden von Wittmer in nicht ganz stilgemässer Haltung ausgestattet». Für die grosse Kuppel wird deshalb mit Waldemar Kolmsperger ein Maler gewählt, der sich schon mit der barocken Malerei des «sotto-in–sù» beschäftigt hat.[24] Er malt das grosse Kuppelfresko 1893–1895 mit dem Thema das Jüngsten Gerichts, zwar im Kompositionsschema des Spätbarocks mit umlaufenden terrestrische Szenen und freier Himmelsmitte, aber in düsterem Kolorit. Die lichte Maltechnik eines Freskos ist zu dieser Zeit vergessen, Kolmsperger arbeitet mit Bindemitteln der Seccomalerei.[25] 1898 malt er zusätzlich die die vier Kirchenväter in die gleichzeitig neubarocke stuckierten Kartuschen der Diagonalräume. Bis 1902 wird auch die Raumschale dem Zeitgeschmack angepasst und alle Altäre und Ausstattungen der Kirche werden zum wiederholten Mal «restauriert». Diese neubarocke Restaurierungsperiode prägt den heutigen Raumeindruck.

1968–1970
Eine erneute Innenraumrestaurierung von 1968/70 eliminiert die meisten Sünden der beiden Restaurierungen des 19. Jahrhundert, ohne aber auf neue Sünden zu verzichten. Einschneidend ist die Zerstörung des Kuppelgemäldes im Chor (1870/72) mit der Übermalung der vier auf den Kuppelring zulaufenden Scheingurten.[26] Alle Farbfassungen des 19. Jahrhunderts im Innenraum werden entfernt und durch eine Neufassung der Raumschale ersetzt.[27] Leitbild der bis heutig bestehenden Farbigkeit ist das bayerische Rokoko. Zu diesen Eingriffen von 1968/70 zählt auch die Absenkung des vorderen Chorraums um zwei Stufen zugunsten der neuen Liturgie.[28]
Nach drei Innenraumrestaurierungen im jeweiligen Zeitgeschmack verbleibt von der barocken Murnauer Nikolauskirche aktuell nur noch die Architektur im Originalzustand.
Die letzte, nun erstmals konservierende Restaurierung des Innenraums findet 2013–2017 statt.
Die drei grossen Innenraumveränderungen des 19. und 20. Jahrhunderts sind meist auch von Sanierungen der Aussenfassaden begleitet. Das Bauwerk, in den 1720er-Jahren in einer tadellosen Qualität gebaut, weist keine bekannten statischen oder bautechnischen Mängel auf. Die Aussenerscheinung des barocken Bauwerkes ist deshalb trotz vieler Sanierungen im Wesentlichen seit der Bauzeit unverändert geblieben.


Baubeschrieb

Architektur

Architekturhistorische Beurteilungen
Die Murnauer Pfarrkirche wird von Bernhard Schütz als zweiter Gründungsbau der hochbarocken bayerischen Zentralraumanlagen beschrieben. Als ersten Gründungsbau bezeichnet er das Oktogon von Freystadt.[29] Im Unterschied zur Wallfahrtskirche Freystadt, die als überkuppelter Zentralraum frei in der Landschaft steht, ist der überkuppelte Zentralraum von Murnau in einen kompakten Längsbau mit durchgehendem Satteldach «eingeschrieben», selbst die Seitenkonchen des in einer zweiten Bauetappe angefügten Dreikonchen-Chors stehen der Fassadenflucht nicht vor. Das zuerst gebaute Langhaus schliesst an den bestehenden Turm an und ummantelt den Hauptraum quadratisch. Dieser ist ein ungleichseitiges Arkaden-Oktogon, das einen überkuppelten Kreis von 20 Meter Durchmesser einschliesst. Die Arkaden der in den Schrägen des Oktogons verbleibenden Eck- oder Diagonalräume sind mit syrischen Bögen[30] betont, während die breiteren Kreuzarm-Arkadenbögen auf den seitlichen Gebälkarmen der mit dem syrischen Bogen hervorgehobenen Diagonalräumen ruhen. Nach Westen wird das Geviert des Hauptraums durch ein Vorhallen-Emporenjoch in der Breite und Teilung des östlichen Turmjochs erweitert. Der wenig später angefügte Chor ist eine Dreikonchenanlage mit einer Flachkuppel über der Vierung. Die beiden Querarme sind leicht schmaler als die Altarkonche. Ihr Übergang zur Vierung ist deshalb als «gekehlte Gewölbearkade» ausgebildet.[31] Ein wegen des bestehenden Turms in der Längsrichtung eingefügtes Zwischenjoch vor der Vierung wird symmetrisch wiederholt, deshalb die Längsbetonung des Chors. Diese Chorlösung ist keinesfalls die Planung eines Anfängers, wie dies Hauttmann noch 1921 schreibt, der auch sehr ungnädig mit dem Zentralraum umgeht, den er «für diese Stufe primitiv» beurteilt. Wenn Bernhard Schütz (2000) über den gleichen Zentralraum schreibt, dieser Raum sei für Bayern «etwas völlig Neues, nicht zuletzt wegen des als Prägemotiv eingesetzten, bis dahin ungebräuchlichen syrischen Bogens», dann ist er der korrekten Beurteilung sicher näher.

Die Kuppel von Murnau und das Pantheon
Gleichzeitig unterliegt auch Bernhard Schütz dem noch im Kunstführer 2019 wiederholten Irrglauben, dass der grösste Zentralraum Bayerns noch 1717/18 die gotische Ettaler Kirche sei, deren Gewölbe allerdings auf einer Mittelstütze ruhe. Tatsächlich ist 1716 die barocke Ettaler Rundkuppel von 25,3 Meter bereits gebaut. Zwei Architekturhistoriker, die das Baugeschehen nicht nur ästhetisch beurteilen, weisen dies 2008 nach.[32]

Gehe zum Anhang «Die Kuppel von Ettal, ihr Bau und Ihre Baumeister»

Die gemauerte Kuppel in Ettal ist ein Werk des Baumeisters Enrico Zuccalli. Für ihre Ausführung dürfte er weitere «Welsche» beigezogen haben. Dass dann um 1720 einer dieser erfahrenen Gewölbebauer wieder in Murnau anzutreffen ist, muss keine abwegige Annahme sein.[33]
Die Murnauer Kuppel von knapp 20 Meter Durchmesser ist aber nicht «eine extrem flache Kuppelschale» (Schütz 2000) oder gar eine Flachkuppel (Hauttmann 1921), sondern eine beinahe halbkugelförmige Kuppel. Das Hauptgesims des Innenraums liegt genau in der halben Raumhöhe, die Kugelproportionen des römischen Pantheons werden in Murnau wiederholt. Der Eindruck einer flachgespannten Kuppel entsteht lediglich durch das über den Arkadenbögen umlaufende zweite Gesims. Eine Analyse des seit 1895 vorliegenden Längsschnittes bestätigt dies mit dem eingetragenen Kreis, der nur eine geringe Erweiterung der Kuppel in der oberen Hälfte zeigt.

Die Baumeisterfrage
Syrische Arkadenbögen, ein Zentralraum mit einer der grössten damals gemauerten Kuppel nördlich der Alpen, eine geniale Dachstuhllösung und die innovative Chorlösung – dies können keine Werke eines einheimischen, unbekannten Maurermeisters sein. Schon früh wird Enrico Zuccalli als Planer vermutet, obwohl seine Leistung als Erbauer der Kuppel von Ettal erst seit wenigen Jahren feststeht. Weil er seit 1716 wieder als Hofbaumeister wirkt, wird seine anfängliche Mitwirkung heute vielleicht zu Unrecht verneint. Denn das Konzept eines Zentralbaus könnte er schon vor 1716 in Ettal erarbeitet haben. Sein Nachfolger in Ettal, der während der ganzen Bauzeit für Murnau zuständige P. Roman Dechamps, ist wichtiger und auch einzig gesicherter Beteiligter der «Planung Pfarrkirche Murnau».
Neuestens könnte auf Grund eines archivalischen Zufallsfundes die Baumeisterfrage geklärt sein.[34] Der Planverfasser wird als Münchner Stadtmaurermeister bezeichnet, ohne aber dessen Namen zu nennen. In Frage kommen Johann Mayr[35] und Johann Georg Ettenhofer.[36] Es reizt natürlich, Johann Mayr als leitenden Baumeister zu sehen, da bei ihm zu dieser Zeit Johann Michael Fischer nach seiner Rückkehr aus Böhmen arbeitet und 1725 auch die Tochter Mayrs heiratet. Den syrischen Arkadenbogen wenden aber alle genannten Personen in ihren Bauwerken nie an, grosse Kuppeln bauen in Bayern bisher nur «Welsche», und Johann Michael Fischer ist zur Zeit des Neubaus von Murnau Palier in Schlehdorf. Selbst das als Vorbild bezeichnete Oktogon von Einsiedeln ist 1717 noch nicht fertig geplant oder gar begonnen.[37] Deshalb ist für Murnau, wie für die meisten grösseren barocken Bauwerke, eine seit 1716 laufende Kollektivplanung mit Planungs- oder Beratungstätigkeit einiger der oben genannten Personen (Zuccalli, Dechamps, Johann Mayr, Johann Michael Fischer) anzunehmen. Nicht auszuschliessen ist auch die Beratung durch welsche Bauleute aus dem Zuccalli-Umkreis, die dem Maurermeister Caspar Bauhofer aus Murnau für den Gewölbebau zur Verfügung stehen und neue Ideen wie den syrischen Bogen mitbringen.

Aussenbau, Dach und Fassade
Das Gebäude mit den Rechteckräumen des Langhauses und dem Trikonchos des Chors wird mit dem durchlaufenden First und der umlaufende Traufe zu einem kompakten Körper zusammengefasst. Der damit stark überhöhte Ostarm des Chors erhält mit der umlaufenden Traufe ein belichtetes Attikageschoss. Die Traufe ist derart hoch angesetzt, dass die Zerrbalkenlage die kleineren Kuppeln überbrückt. Beim Durchbruch des Hauptgewölbes in den Dachraum sorgt ein System von ringförmigen Ankern für eine dauerhafte Stabilität des Dachwerks. Das 13 Meter hohe Kehlbalkendach mit zwei liegenden Stuhlgeschossen und mittlerem Hängewerk zeugt von der Innovationskraft des Bernrieder Zimmermeisters Pföderl. «Das Murnauer Dachwerk ist zu den herausragenden Leistungen der barocken Bautechnik in Deutschland zu zählen».[38]
Die Längsfassaden sind entsprechend ihrer inneren Gliederung mit Lisenen in Putzflächen-Felder mit Rundbogenfester geteilt. Auf den Zentralraum weist aussen nur das hochliegende, unten nierenförmig ausgeweitete Halbrundfenster im breiteren Feld hin. Diese Fensterform deutet auf eine spätere Umwandlung eines Halbrundfensters hin, vielleicht im Zusammenhang mit den Altarumstellungen 1771.[39]
In der dreiteiligen Hauptfassade setzt sich die flächige Felderteilung der Seitenfassaden fort. Im mittleren Feld des Hauptgeschosses liegt ein einfaches Halbrundfenster in gleicher Grösse und Höhenlage wie die beiden Zentralraum-Mittelfenster. Wahrscheinlich ist dies die ursprüngliche Lösung. Der quadratische Giebelaufsatz mit seitlichen Anschwüngen liegt über der markant umlaufenden Traufe und einer zusätzlichen Attikazone. Er enthält ein Rundfenster und ist mit einem Frontispiz gedeckt.

 

Ausstattung

Die Datierungen, die Umstellungen und die vermuteten Meister werden in der Bau- und Ausstattungsgeschichte oben beschrieben. Auf einen weiteren Beschrieb der mehrfach veränderten Seitenaltäre wird an dieser Stelle verzichtet.

Hochaltar
Das marmor- und goldgefasste Holzretabel des Hochaltars nimmt die Breite der Ostapside zwischen den beiden Fenstern ein und erreicht eine Höhe von 12 Meter. Auf die auch im Spätrokoko übliche Säulenarchitektur für Hochaltäre verzichtet der wahrscheinliche Altarbauer Bartholomäus Zwinck (dieser vielleicht nach einem Entwurf von Schmädl). Das Retabel fasst mit seitlichen, ornamental gestalteten Pilastern und mit einem ebenso frei gestalteten, aufgebogenen Gebälk das Altarblatt von 1771. Das Gemälde zeigt den vom Erzengel Michael begleiteten hl. Nikolaus als Fürbitter der Gemeinde vor dem kreuztragenden Christus. Im Oberstück sitzt Gottvater im goldenen Strahlenkranz. Putti halten eine grosse vergoldete Krone über ihn, beidseits sitzen zwei grössere Engel auf dem Gebälk. Alle Figuren sind weiss gefasst.
Dieses hintere, die Apsidenrundung füllende Retabel ruht auf einer nach vorne versetzten und verbreiterten Sockelzone, die in der Mitte das alte Gnadenbild in einem Rokokoschrein aufnimmt. Seitlich, über den zwei Durchgängen des Retabelsockels, stehen die lebensgrossen Statuen des hl. Benno, Patron Altbayerns und des hl. Ulrich, Patron des Bistums Augsburg. Sie sind ebenfalls weiss gefasst.
In einer dritten Ebene vor der Sockelwand steht die Altarmensa mit einem dreiteiligen Rokokotabernakel. Adorierende Engel beidseits des Tabernakels erinnern, wie auch die gesamte Figuralplastik des Retabels, an Werke von Johann Baptist Straub. Die Annahme, dass sie ein Werk von Johann Baptist Schmädl seien, dürfte zutreffen, denn der Weilheimer Rokoko-Bildhauer beweist mehrfach sein Einfühlungsvermögen in die Werke der Münchner Bildhauer Straub und Günther.

Kanzel
Die Kanzel hängt derart weit oben, dass die Dreifaltigkeitsgloriole der bekrönenden Michael-Luzifer-Gruppe das Gebälk des syrischen Bogens überragt. Der Grund für diese Lage ist der Kanzelzugang. Er erfolgt aus dem Oratoriumsgeschoss über der (alten) Sakristei. Kanzelkorb und Schalldeckel sind weiss gefasst, ihre Formen sind schlichter als das genannte mögliche Vorbild des Bildhauers Johann Baptist Straub in Ettal. Umso klarer treten die applizierte vergoldete Figuralplastik und die Reliefs am Kanzelkorb hervor. Originell ist die Verteilung der Evangelistensymbole. Der Stier (Lukas) trägt den Kanzelkorb. Auf dem Schalldeckel sitzen Adler (Johannes) und Löwe (Markus).  Für Matthäus hält ein Putto Schriftrolle und Feder. Die Kanzel von Murnau (1780), aber noch mehr diejenige von Garmisch (1782, für Franz Hosp gesichert) zeigen, wie lange das Rokoko sich trotz des kurfürstlichen Mandats von 1770 auf der Landschaft noch gehalten hat.

Chorgestühl und Beichtstühle
Beidseits des Altarraums, in den gekehlten Übergängen von der Vierung zu den Querkonchen, steht in Einheit mit der Kommunionsbalustrade je ein Chorgestühl. Die beiden, nur für je 2–3 Personen gebauten Gestühle werden umfassend von Sybe Wartena beschrieben.

Gehe zum Beschrieb der Chorstühle

Die Chorstühle und auch die Rokoko-Beichtstühle sind Werke der Zwinck-Werkstatt. Ihre Ausführung soll 1764–1766 durch Paul Zwinck erfolgt sein. Ihm werden auch die Beichtstühle von Ettal um 1760 zugeschrieben. Die furnierten Prunkmöbel von Ettal lassen sich aber nicht mit Murnau vergleichen. Die Wertung von Sybe Wartena für die Murnauer Chorstühle darf auch für die Beichtstühle übernommen werden: «Sie sind ein besonders geglücktes Beispiel eines bayerischen Rokokos, dessen leichte, heitere und schwingende Eleganz immer eine menschliche Wärme behält». Die vier Beichtstühle können in ihrer Art auch mit einem Chorgestühl verglichen werden, denn selbst der Mittelteil mit dem Sitz des Beichtvaters ist nach vorn geöffnet. Das wie ein überhöhter Dorsal-Abschluss wirkende Rokokoschnitzwerk des Mittelteils hat je ein Gemälde zum Thema Busse und Vergebung zum Inhalt.

Orgel
Das Orgelwerk von Andreas Jäger aus Füssen von 1749 oder 1750/51 wird schon 1805 durch ein neues Werk (II/P/18) ersetzt, dessen Orgelbauer unbekannt ist, und der auch das Prospektgehäuse von Andreas Zwinck umbaut oder ersetzt. Wie die Wikipedia (deren Autoren sich im Gegensatz zu allen architekturhistorischen Veröffentlichungen für den jeweiligen Gegenpart des Hochaltars interessieren) auf Grund der Orgeldatenbank Bayern beschreibt, erfolgt 1892 und 1970 ein erneuter vollständiger Neubau, nun aber mit Erhalt des Prospektgehäuses von 1805. Zurzeit weicht das Werk von 1970 wieder einem Neubau (II/P/30), der unter erneuter Verwendung des alten Prospektes 2024 eingeweiht werden kann.
Der fünfteilige Orgelprospekt mit nach aussen aufschwingenden Seitentürmen steht frei im Gegenlicht des Westfensters. Die einzelnen Felder sind über einem geraden Unterbau leicht konkav-konvex gewölbt. Im eichenholzfarbenen Prospektgehäuse kommen das vergoldete Zierwerk der Schleierbretter und die 39 Prospektpfeifen schön zur Geltung. Insgesamt wirkt der Prospekt trotz der klassizistischen Zeit noch immer barock. Zu diesem Eindruck tragen auch die musizierenden Engel auf den Gesimsvoluten bei.

Pius Bieri 2023


Literatur

Baumann, Simon: Geschichte des Marktes Murnau in Oberbayern. Murnau 1855.
Bezold, Gustav von, und Riehl, Berthold: Die Kunstdenkmale des Regierungsbezirkes Oberbayern, I. Theil. München 1895.
Hauttmann, Max: Geschichte der kirchlichen Baukunst in Bayern / Schwaben und Franken 1550–1780. München 1921
Lieb, Norbert: Münchener Barockbaumeister. München 1941.
Schedler, Uta: Murnau am Staffelsee. St. Nikolaus und seine Nebenkirchen. Kunstführer Nr. 476. München und Zürich 1984.
Schütz, Bernhard: Die kirchliche Barockarchitektur in Bayern und Oberschwaben. München 2000.
Salmen, Brigitte: Johann Michael Wittmer (1802–1880), Dissertation Universität Passau 2005.
https://opus4.kobv.de › opus4-uni-passau › files › 80 › Salmen_Brigitte.pdf
Holzer, Stefan M. und Köck, Bernd: Meisterwerke barocker Bautechnik. Regensburg 2008.
Klotz, Sabine: Pfarrkirche St. Nikolaus Murnau am Staffelsee. Kunstführer. Lindenberg 2019.

Web

Webseite der Pfarreiengemeinschaft Murnau
https://www.pg-murnau.de/kirchen/st-nikolaus-in-murnau/
Die Kirche St. Nikolaus in der Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/St._Nikolaus_(Murnau_am_Staffelsee)

Anmerkungen

[1] Siehe dazu die Karte der «Chaussée von Landsberg über Wessobrunn, Weilheim, Murnau und Mittenwald bis Scharnitz in Tirol» von Riedl 1796 (anklicken!, Beginn der Leserichtung ist links unten, Nord ist in den drei Kartenabschnitte unten). Quelle: BSB München.
 
[2] Die Geschichte des Gnadenbildes der Pfarrkirche ist in der «Geschichte des Marktes Murnau» von Simon Baumann (1855), Seiten 132–137, schön beschrieben. Ein zweites Murnauer Gnadenbild, die Muttergottes vom Eichholz, wird nach einem Tränenwunder von 1821 in die Marktkirche Maria-Hilf verlegt.  

[3] Abt Placidus Seitz OSB (1672–1736) aus Landsberg am Lech. Er ist 1699–1708 als Professor am Akademischen Gymnasium und an der Hochschule in Salzburg tätig. Als Abt wirkt er in Ettal 1709–1736. 1715 ist der Klosterneubau in Ettal weitgehend vollendet und der verantwortliche Baumeister Enrico Zuccalli kehrt wieder in Hofdienste nach München zurück.
Zu Abt Placidus siehe die Biografie in dieser Webseite.

[4] P. Roman Dechamps oder de Champs OSB (1670–1750) aus München, 1690 Professe von St. Peter in Salzburg, 1706–1714 Präfekt und Pfarrer in Dornbach bei Wien, wo er eine St. Anna Kapelle baut. In Ettal ist er 1716–1729 «Praefectus et Inspector rei aedilis». Er ist hier planend und bauleitend tätig und für die Pfarrkirche Murnau 1717–1729 während der ganzen Bauzeit zuständig.

[5] Gründe für die mangelhafte Aktenlage sind vor allem der Brand des Klosters Ettal 1744 und der Stadtbrand von Murnau 1774, mit der jeweiligen Zerstörung aller Bau- und Pfarrakten.

[6] Caspar Bauhofer aus Murnau wird 1855 erstmals als ausführender Maurermeister genannt. Weitere Bauten sind von ihm nicht bekannt. Als lokaler Bauunternehmer muss ihm aber Entwurfs- und Ausführungserfahrung für einen derart innovativen und überkuppelten Zentralbau abgesprochen werden.

[7] Johann Pföderl (1667–1758) aus Königsdorf ist Zimmermeister in Bernried. Pföderl ist für Ingenieur-Holzbauten in Oberbayern gesuchter Zimmermann und arbeitet später viel mit Baumeister Joseph Schmuzer zusammen.

[8] Johann Baptist Zimmermann (1680–1758) aus Wessobrunn. Zu Johann Baptist Zimmermann siehe die Biografie in dieser Webseite.

[9] Die heutige Zwiebelkuppel mit Laterne wird erst 1750 erstellt.

[10] Die fehlenden Quellen zu den Altarausstattungen von Murnau verleiten jede Kunsthistorikergeneration zu neuen Annahmen. In der mir zugänglichen Literatur sind lediglich kontroverse Angaben zu den Datierungen und zu den vermuteten Altarbauern vorhanden. Die generelle Datierung «1734» der neuen Seitenaltäre und der neuen Kirchenbänke ist zu hinterfragen, denn der Kirchenraum wird mit Sicherheit spätestens 1730 von der Gemeinde voll genutzt. Zur Rekapitulation: Das Kirchenschiff ist 1727, der Chor 1730 bezugsbereit. Im Chor wird 1730 auch der Hochaltar aufgerichtet. Warum sollen also die Kirchenbänke erst 1734 in die Kirche kommen? 1734 ist das Jahr der Einweihung durch Weihbischof Johann Jakob von Mayr. Dieses Datum, das mit der Baufertigstellung nichts, aber viel mit dem befrachteten Terminplan eines Weihbischofs zu tun hat, ist offenbar für die Ausstattungsdatierung Grundlage.

[11] Der alte Ettaler Hochaltar mit dem Patrozinium Mariä Himmelfahrt, der 1730 aufgestellt wird, wird in älteren Publikationen mit «um 1650» datiert. Glaubwürdig ist diese Datierung nicht, denn auch für die alten Ausstattungen in Ettal fehlen die Quellen. Über den Verbleib des alten Retabels nach dem Neubau 1770 ist nichts bekannt, will man sich nicht der unsinnigen Hypothese im Dehio (2006) anschliessen, dass der heutige Hochaltar nur eine Umgestaltung des alten sei. Eher dürfte der heutige Rosenkranzaltar der 1771 umgebaute alte Ettaler Hochaltar sein.

[12] Simon Bernhardt (†1737) aus Murnau ist der vermutliche Lehrmeister des Malers Matthäus Günther.

[13] Franz Xaver Schmädl (1705–1777) aus Oberstdorf. 1734 Übernahme der Bildhauerwerkstatt Martin Dürr in Weilheim. Aus diesem Jahr die Figuralplastik des Geiselheilandes in Murnau. 1735 erhält er einen Auftrag für die Altäre in Oberammergau, die er aber erst ein Jahrzehnt später beginnen kann. Erste gesicherte Altäre 1744 in Rottenbuch. Er wird in diesen Jahren zum führenden Rokokobildhauer im Pfaffenwinkel. Schon 1738 ist er auch in Diessen als Altarbauer genannt, könnte also Geselle des Altarbauers und Bildhauers Johann Joachim Dietrich (1690–1753) sein, da von Schmädl keine Altäre in Diessen stehen. Schmädl ist 1756/62 auch als Bildhauer des Hochaltars von Fürstenfeld belegt, der nach einem Entwurf von Egid Quirin Asam ausgeführt wird.

[14] Franz Xaver Schmädl soll 1734 Entwerfer beider Altäre sein. Vom Rokokobildhauer sind allerdings erstmals 1744 (in Rottenbuch) derart bewegte Altäre bekannt. Im Bavarikon wird die Vermutung bereits Tatsache.

[15] Die Kistler- und Bildhauerfamilie (Zwinck oder Zwink) aus Uffing ist vor allem im 18. Jahrhundert in Kloster- und Landkirchen des Pfaffenwinkels und der Staffelseeregion tätig. Paul Zwinck (1707–1778) und sein Sohn Bartholomäus Zwinck (1743–1780) aus Uffing sind ihre Hauptvertreter zur Rokokozeit. Paul Zwinck führt die Uffinger Werkstatt seit 1743. Gemäss Sabine Klotz (2019) werden die Beichtstühle «ganz sicher» durch Paul Zwinck 1764-1766 geschaffen. Bartholomäus Zwinck übernimmt 1770 eine Werkstatt und das Bürgerrecht in Murnau. Der Hochaltar in Murnau muss deshalb ihm zugesprochen werden.

[16] Johann Baptist Baader (1717–1780) aus Lechmühl, bekannt als «Lechhansl», Schüler von Johann Georg Bergmüller in Augsburg. Er arbeitet für alle Klöster der Region, vor allem für das Chorherrenstift Polling.

[17] Andreas Jäger (1704–1773) aus Rosshaupten, Orgelbauer in Füssen. Sein Hauptwerk ist die gleichzeitig (1745/50) erstellte grosse Emporenorgel von St. Mang in Füssen. Wie viele Daten zur Murnauer Kirchenausstattung sind auch diejenigen der Orgel widersprüchlich. Sabine Klotz nennt im Kunstführer 2019 für die neue Orgel das Datum 1749, für das Prospektgehäuse aber 1750/51. Sie bezeichnet den heutigen Prospekt als den ursprünglichen. Das Jahr 1749 für den Orgelbau wird in der detaillieren Beschreibung der Wikipedia übernommen, der Prospekt aber mit dem Neubau des Instrumentes 1805 datiert. Siehe dazu die Anmerkung 19 und die Ausführungen im Baubeschrieb.

[18] Franz Hosp (1745–1790) aus Imst im Tirol. Zum frühverstorbenen Tiroler Bildhauer ist bisher die Forschung ausgeblieben. Seine von ihm 1782 erstellte und auch signierte Rokoko-Kanzel in St. Martin von Garmisch ist bedeutend bewegter und reicher als die Murnauer Kanzel. Die Zuschreibung der einfacheren Kanzel von Murnau ist neueren Datums.

[19] Der Neubau des Orgelinstruments 1805 ist keinem Kunstführer erwähnt. Der Orgelbauer ist unbekannt. Wikipedia vermutet den Orgelbauer Jakob Kölbl aus Wielenbach/Wessobrunn, der aber 1805 in Schwaz stirbt.

[20] Es scheint, dass sich diese Spendenbereitschaft erhalten hat, denn für den bis 2024 laufenden erneuten Neubau der Orgel (im Gehäuse von 1805) sind bis 2022 bereits 460 000 Euro gespendet worden.

[21] Johann Michael Wittmer (1802–1880) aus Murnau, 1828–1880 vorwiegend in Rom. Er schliesst sich dort dem Kreis der Nazarener um Friedrich Overbeck an, die glauben, mit den Vorbildern Raffael und Fra Angelico die religiöse Kunst zu revolutionieren. Er ist auch stark vom ebenfalls in Rom lebenden Joseph Anton Koch (1768–1839) geprägt, dem grossen Maler von heroischen Landschaften, dessen Tochter er 1833 heiratet. Mit dem Kronprinzen Maximilian, dem späteren König, hält er in diesem Jahr in Griechenland auf, das er mit dem Wittelsbacher Kronprinzen und mit dessen Onkel, dem König Otto von Griechenland bereist. Wittmer ist vor allem Ölmaler. Seine Altarblätter in Murnau zeigen starken nazarenischen Einfluss. Mit der Malerei auf Putz beschäftigt er sich erst im Alter von 60 Jahren. Die entsprechende Maltechnik wird noch als Fresko (siehe auch Anmerkung 25) beschrieben.

[22] Joseph Anton Schwarzmann (1806–1890) aus Prutz in Tirol. Sein Hauptwerk ist die (heute zerstörte) dekorative Ausmalung des Speyerer Doms, die er 1846–1853 zusammen mit dem Nazarener Johann von Schraudolph ausführt.

[23] Die Kartuschenbilder wirken eher neobarock. Die Zuschreibung an einen Maler fehlt in allen kunsthistorischen Beschrieben.

[24] Waldemar Kolmsperger d. Ä. (1852–1943) aus Berchtesgaden. Er ist vorgängig u. a. in Schloss Neuschwanstein (1884, neuromanisch), in Giesing (1883, Pfarrkirche, neugotisch), in Lauda (Marienkapelle 1887, neubarock) und in Sonthofen (Pfarrkirche 1891, neubarock ) tätig. Murnau ist sein erstes grosses neubarockes Kuppelgemälde. In die Barockmalerei des «sotto in sù» kann er sich vor allem in seinen vielen neubarocken Werken nach 1900 hervorragend einfühlen. Ab 1913 ist auch sein Sohn Waldemar Kolmsperger (1881–1954) als Kirchenmaler tätig.

[25] Wie schon bei Wittmer und Schwarzmann, werden auch bei Kolmsperger die Gemälde noch immer als Fresko bezeichnet. Bei den beiden ersteren mag dies noch möglich sein, nicht aber beim Kuppelgemälde 1893/95. Immerhin werden in neueren Publikationen die Gemälde von Kolmsperger mit Secco-Malerei umschrieben, aber ohne auf die Technik einzugehen. Die Wichtigkeit der Maltechnik für das Erscheinungsbild scheint für die meisten Kunsthistoriker und -innen nicht von Interesse.

[26] Die Übermalung wird mit Ruinenthematik bereichert. Offenbar ist das bayerische Rokoko Vorbild der damals Verantwortlichen. Die breiten und hellen Teilungen hätten allerdings auch farblich zurückhaltend gedämpft werden können. Damit wäre eine zeittypische Malerei nicht zerstört worden. Zudem ist eine Teilung der Kuppel in vier Segmente auch im Spätbarock üblich, wie dies etwa Cosmas Damian Asam 1725 an der Abendmahlkuppel in Einsiedeln zeigt.

[27] Ausführung mittels einer modifizierten Kalkfarbe mit Kasein- und Leinölzusatz

[28] Die Chorneugestaltung ist verständlich und fügt sich gut in den Gesamtraum ein. Sie ist der Liturgie nach dem Vatikanum II geschuldet. Der jetzt freistehende Zelebrationsaltar ist der alte barocke Kreuzaltar, der bis 1968 in den sechs Stufen des Choreinzugs platziert ist. Sein Kreuz steht heute an der der Kommunionbank vor dem Hochaltar.

[29] Zur Wallfahrtskirche Maria-Hilf in Freystadt (Viscardi, 1700–1710) siehe den Beschrieb in dieser Webseite unter: https://www.sueddeutscher-barock.ch/In-Werke/a-g/Freystadt.html

[30] Der syrische Bogen wird erstmals 1709 als barockes Motiv von Gabriele de Gabrieli in Ansbach angewendet.
Siehe zum syrischen Bogen das Glossar in dieser Webseite unter
https://www.sueddeutscher-barock.ch/ga-menuseiten/m71_Glossar.html#BuchstabeS

[31] Die Ausmuldung bis zum Gewölbeansatz wird von Bernhard Schütz (2000) als gekehlte Gewölbearkade bezeichnet, die später auch bei Johann Michael Fischer wiederkehrt.

[32] Stefan Holzer und Bernd Köck in: Meisterwerke barocker Bautechnik. Regensburg 2008.

[33] In Ettal ist als Steinmetz der «Welsche» Antonio Matheo († 1732) tätig, der dann unter Gabriele de Gabrieli 1716–1718 in Eichstätt arbeitet und anschliessend wieder in München tätig ist (Schleissheim, Hl. Geist). Mit Matheo könnte auch die Herkunft des in Bayern «bis dahin ungebräuchlichen syrischen Bogens» (Schütz 2000) für die Murnauer Arkaden zusammenhängen, da Gabrieli diesen Bogen schon vor 1709 in Ansbach und dann, mit Matheo, 1714 monumental an der Westfassade des Domes von Eichstätt anwendet.

[34] Sabine Klotz weist im Führer 2019 auf ein Schreiben des Pollinger Probsts an den Dekan des Stifts Schlehdorf vom 28.8.1718 hin. Der Pollinger Propst schreibt darin: «Höre das sie zu einem Baumeister ihnen erwöllt den statt Maister von Minchen, Non abire (?): habe neulich seinen Ris vor die Murnauer-Kirche gesehen, vnd mir sehr wohl gefallen, wan ich die ehr kunte haben auch den ihrigen zu sehen, hette ich wohl große Freid». (Freundliche Mitteilung von Frau Dr. Sabine Klotz)

[35] Johann Mayr (1677–1731) aus Au bei Aibling. 1699 Stadtmaurermeister in München. Er ist Stiefvater der Baumeister Johann Baptist und Ignaz Anton Gunetzrhainer. Mayr ist 1718 Baumeister der Klosteranlage des Chorherrenstifts Schlehdorf am Kochelsee, wo er den 1717 eingetroffenen Johann Michael Fischer bis um 1722 als Palier einsetzt. Fischer kann demnach nicht Palier in Murnau sein. 1723 erlangt Fischer in München die Meistergerechtigkeit. Ein Einfluss Fischers auf die Planung der Pfarrkirche Murnau oder gar eine Beteiligung (als Zeichner?) ist aber nicht auszuschliessen. Fischers spätere Werke muten manchmal zudem wie eine Weiterentwicklung des Murnauer Bauwerks an.
Die Zusammenarbeit Mayrs mit seinem Stiefsohn, dem inzwischen kurfürstlichen Hofmaurermeister Johann Baptist Gunetzrhainer und mit dem Schwiegersohn Johann Michael Fischer ist für das Schloss Lichtenberg 1723 und für die Pfarrkirche Schärding 1725 nachgewiesen.

[36] Johann Georg Ettenhofer (1668–1741) aus Bernried ist nach dem Tod von Giovanni Antonio Viscardi 1713 dessen Nachfolger (Dreifaltigkeitskirche München 1713–1715, Stiftskirche Fürstenfeld 1716–1728). Er ist auch Entwerfer der Stiftskirche Schlehdorf (Ausführung Mayr, siehe oben). Ettenhofer ist als Stadtmauermeister erstmals 1724 in den Pfarrbüchern erwähnt. Er ist zudem während der Murnauer Bauzeit ausführender Baumeister in Fürstenfeld und anderen Neubauten. Zu Ettenhofer siehe die Biografie in dieser Webseite.

[37] Im grossen Oktogon der Stiftskirche Einsiedeln wendet Caspar Moosbrugger 1720 zwar den syrischen Bogen an, aber eine von Schütz vermutete Vorbildfunktion des Einsiedler Oktogons auf Murnau dürfte wegen des drei Jahre späteren Baubeginns in Einsiedeln kaum möglich sein.

[38] Stefan Holzer / Bernd Köck 2008. In ihrem Beschrieb des Dachstuhls von Murnau weisen sie auf ein interessantes Detail hin: Der Fussbalken ruht nicht wie üblich auf der Mauerkrone der Aussenwand, sondern auf einem Zinnenkranz ähnlich einer Burg. Damit wird der üblichen und gefährlichen Durchfeuchtung des Dachfusses begegnet.

[39] Das unten nierenförmige Halbrundfenster bildet den oberen Abschluss einer übergrossen Fassadennische in der Süd- und Nordfassade. Diese Formgebung von Halbrundfenstern wird später, auch als Abwandlung eines Thermenfensters vor allem von Joseph Schmuzer (Garmisch 1731, Partenkirchen 1735) angewendet. Weder diese beiden nierenförmig erweiterten Halbrundfenster noch das ältere Halbrundfenster der Westfassade sind allerdings Thermenfenster, denn dieses ist durch zwei Pfeiler dreigeteilt. Zum Thermenfenster siehe das Glossar in dieser Webseite unter https://www.sueddeutscher-barock.ch/ga-menuseiten/m71_Glossar.html#BuchstabeT

 



Pfarrkirche St. Nikolaus in Murnau am Staffelsee
Innenraum
Ort, Land (heute) Herrschaft (18. Jh.)
Murnau am Staffelsee Kurfürstentum Bayern
Bistum (18. Jh.) Baubeginn
Augsburg 1717
Bauherr und Bauträger der Barockzeit
Seitz  Abt Placidus Seitz von Ettal (reg. 1709–1736)
      verteten durch P. OSB Roman Dechamps als
      Bauleiter, und der Kirchenstiftung Murnau für
      die Finanzierung
 
Das grosse Arkaden-Oktogon der Pfarrkirche Murnau. Blickrichtung zum Chor mit den syrischen Bögen der Diagonalräume. Foto: Bieri 2023.
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Südansicht der Kirche mit dem in den Neubau integrierten älteren Turm. Foto: Bieri 2023.
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Das  ehemalige Pflegschloss (links) und die Pfarrkirche von 1717/29, über den Dächern von Murnau aus Westen gesehen. Im Wening-Stich kann die gleiche Ansicht mit 1701 verglichen werden. Foto: GFreihalter 2015.
Die dreiteilige Hauptfassade überzeugt mit der Schlichtheit der klaren architektonischen Gestaltung. Foto: GFreihalter 2011.
In der Ansicht aus Nordost ist die Zusammenfassung von Langhaus und Chor-Trikonchos zu einem kompakten Baukörper unter durchlaufenden Dachfirst zu sehen. Der damit stark überhöhte Ostarm des Chors erhält mit der umlaufenden Traufe ein belichtetes Attikageschoss. Foto: Bieri 2023
Grundriss und Längsschnitt zeigen das in einen Rechteckkörper eingeschriebene Oktogon und den an den alten Turm anschliessenden Trikonchos des Chors. Die Komplexität ist aussen (siehe oben) kaum ablesbar.  Rot in die Pläne von 1895 eingetragen ist die Kugelproportion des Kuppel-Oktogons. Das Hauptgesims des Innenraums liegt genau in der halben Raumhöhe, die Kugelproportionen des römischen Pantheons werden in Murnau wiederholt.
Der Innenraum mit Blick zum Chor. Die beiden seitlichen Diagonalräume des Kuppeloktogons sind durch syrische Arkadenbögen überbetont, welche auf Doppelpilastern auflagern. Dieses Architekturelement wird im damaligen Bayern erstmals in Murnau verwendet. Auf diesen syrischen Bögen lagern dann die Arkadenbögen der Kreuzarme. Foto: Bieri 2023.
Der Innenraum mit Blick zur Orgel. Diese ist zurzeit ausgebaut (in die Aufnahme ist die Foto von Erwin Meier 2022 eingefügt).
Foto: Bieri 2022.
Der Chorraum
Einblick in den Chorraum mit dem überkuppelten Mittelraum des Dreikonchenraumes, dahinter die Hochaltar-Apside und davor das mit Loggien versehene Zwischenjoch. Foto: Bieri 2023
Der Hochaltar von Bartholomäus Zwinck aus Uffing mit dem Altarblatt (1771) von Johann Baptist Baader aus Lechmühl. Das Blatt mit dem Erzengel Michael und dem hl. Nikolaus als Fürbitter Murnaus vor dem kreuztragenden Christus ist in der unten vom Gnadenbild-Schrein der zweiten Ebene verdeckt. Davor steht frei die Altarmensa mit dem breiten Rokokotabernakel. Bei der Kommunionbalustrade steht das Kreuz des ehemaligen Kreuzaltars. Dieser dient heute in der vordersten Ebene im Turmzwischenjoch als Zelebrationsaltar. Mehr dazu im nebenstehenden Text und im Grundriss.
Foto: Bieri 2023.
Der dreiteilige Tabernakel mit den adorierenden Engel. Dahinter, auf der dem Altarretabel vorgestellten Sockelebene, der Schrein mit dem Gnadenbild und die beiden Statuen des hl. Benno und des hl. Ulrich. Foto: Bieri 2023.
 
Die Altäre der Querkonchen im Chorraum. Der nördliche Michaelsaltar (17. Jahrhundert) enthält ein Blatt von 1781, dasjenige des südlichen Schutzengelaltaras wird erst 1877 eingesetzt. Fotos: Bieri 2023.
Eine der beiden Rokoko-Loggien des Turm-Zwischenjochs. Foto: GFreihalter 2015.
Die Ausstattung des Kuppelraumes
Die Ausstattung ist im nebenstehenden Text ausführlich beschrieben. Im Grundrissplan ist die jeweilige Lage ablesbar.
Die Kanzel mit dem Erzengel Michael auf dem Schalldeckel, 1780 wahrscheinlich von Franz Hosp geschaffen, zeigt sie das lange Beharren des Rokokos in der Landschaft, dies trotz des kurfürstlichen Mandats von 1770. Mehr zur Kanzel im Text. Foto: Bieri 2023.
Der ehemalige Thomas-Altar (hier mit der Kanzel) wird 1751 durch Franz Xaver Schmädl zum Franz-Xaver-Altar umgestaltet. Allerdings stellt die Figuralplastik des Retabels die Hl. Familie dar und  im «Auszug» ist der hl. Thomas dargestellt. Der hl. Franz-Xaver ist nur im Predellaschrein zu sehen. Die bewegte Ädikula-Säulenarchitektur des Bildhauer-Retabels wird mit 1734 datiert. Foto: Bieri 2023
Der Sebastiansaltar, das südliche Gegenstück zum Franz-Xaver-Altar, ist mit diesem in der Retabel-Architektur identisch. Im Gegensatz zum nördlichen Pendant wird aber hier von der Kunstgeschichte eine Mitwirkung von Schmädl verneint. Foto: Bieri 2023.
Der Rosenkranzaltar in der Querachse Nord ist im Kern ein Retabel von 1730, das 1771 durch einen unglücklichen Umbau wesentliche frühbarocke Elemente verliert. Es könnte der alte Ettaler Hochaltar sein, der 1730–1770 in Murnau als Hochaltar dient. Das Altarblatt wird erst 1853 eingesetzt. Foto: Bieri 2023.
Der Katharinenaltar in der Querachse Süd wird 1713 gebaut und 1841 umgestaltet. Das ehemalige barocke Altarblatt hängt heute in der Murnauer Kirche Maria Hilf. Foto: Bieri 2023.
Der Antoniusaltar in der nordwestlichen Diagonalnische ist ein Säulenretabel um 1700. Das Altarblatt (hl. Antonius als Fürbitter) stammt von Georg Asam (1649–1711). Foto: Bieri 2023.
Der Johannes-von-Nepomuk-Altar dürfte um 1720/25 für die südwestliche Diagonalnische des neuen Kirchenraums geschaffen worden sein. Foto: Bieri 2023
An der Rückwand unter der Empore beim Taufstein hängt ein hochbarockes ehemaliges Altarblatt mit der Darstellung der Heiligen Sippe über dem träumenden Stammvater Jesse.
Foto: Bieri 2023.
 
Beichtstuhl (links) und Chorstuhl (rechts), beide um 1764/66 von Paul Zwinck. Die Rokokoarbeit wird von Sybe Wartena (Textbeitrag) speziell gewürdigt. Fotos: Bieri 2023.
Die Kuppelgemälde des 19. Jahrhunderts
Barocke Freskomalereien sind in den Kuppeln und Deckengewölbe der Murnauer Kirche nie vorhanden. Alle Gewölbemalereien sind Arbeiten des 19. Jahrhunderts.
Die Gewölbeausmalung des Chors ist ursprünglich ein Werk der Historien- und Dekorationsmaler Wittmer aus Murnau und Schwarzmann aus München von 1870/72. Nur die Régence-Stuckaturen und Kartuschen von Johann Baptist Zimmermann bleiben erhalten. Die Malereien werden 1968/70 im damaligen Verständnis des Barocks vollständig überarbeitet. Vor allem das Kuppelgewölbe-Bild wird radikal verändert. Auch die heutige Farbgebung ist das Ergebnis der «Restaurierung» von 1968/70. In der geosteten Horizontal-Aufnahme mit der Vierungskuppel im Zentrum ist auch die architektonische Lösung von 1727/29 mit den gekehlten Ausmuldungen von der Vierung in die schmäleren Querkonchen zu sehen.
Foto: Bieri 2023
In die grosse Kuppel malt 1893–1895 Waldemar Kolmsperger d. Ä. das  Gemälde mit dem Thema des Jüngsten Gerichts. Er übernimmt ein Kompositionsschema des Spätbarocks mit umlaufenden terrestrischen Szenen und freier Himmelsmitte, malt aber nicht «al fresco». Die lichte Freskotechnik ist zu dieser Zeit vergessen, ein düsterer Kolorit mit deckenden Farben wird bevorzugt. Das noch im ursprünglichen Zustand verbliebene Gemälde wirkt schwer und ist schwer lesbar. Foto: Bieri 2023.
Votivbilder
Zwei Gruppen von Votivbildern des 18. Jahrhunderts sind heute an die Aussenwände der östlichen Diagonalarkaden museal gehängt. Hier die Gruppierung der grösseren Bilder an der Nordseite. Foto: Bieri 2023.
Im obersten Votivbild rechts bedankt sich 1766 die Malerin Frau Regina Bernhardt von Murnau bei Maria der schmerzhaften Mutter für die gnädige Erhörung und Heilung von grossen Schmerzen im rechten Arm. Im Bild kniet sie vor dem Kreuzaltar auf den Stufen zum Chor, der noch den 1771 vor den Hochaltar versetzten Schrein mit dem Gnadenbild trägt.
Foto: Bieri 2023.


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Anhang II

Seite 801/802 aus Sybe Wartena: Die süddeutschen Chorgestühle von der Renaissance bis zum Klassizismus. München 2008.

Chorgestühl in St. Nikolaus Murnau 

Die vorzüglichen Rokoko-Chorgestühle werden weder im Dehio-Handbuch, noch im Führer erwähnt, wohl aber bei Busch, dort aber unter Barock mit der Datierung «1730»; immerhin werden sie als «gute Arbeit» gelobt; sie könnten gut mit den Beichtstühlen aus den 1770er-Jahren vom Schreiner Bartholomäus Zwick oder Zwinck zusammen entstanden sein. Auf jeden Fall sind sie zusammen mit dem Kommunionsgitter entstanden, mit dem sie eine stilistische Einheit bilden. Die kleinen Gestühle ohne Stalleneinteilung sind seitlich mit Türchen geschlossen und bieten 2-3 Personen Platz. Sie stehen in der Vierung des zentralisierten Chorraumes an den ausgemuldeten Schrägen der östlichen Pfeiler und sind auf das Zentrum der Vierung ausgerichtet. Der Hochaltar ist vom Gestühl aus nicht zu sehen. In Entsprechung zum Pfeiler haben auch die Gestühle selber einen einschwingenden Grundriss. Das Dorsale hat eine seitlich einschwingende, auszugartige Form. Richtige Pilaster gibt es nicht, wohl aber ein stark bewegtes, im Zentrum eine große runde Öffnung freigebendes Gebälk. Dem freien, bildhauerischen Umgang mit den Architekturformen im Dorsale entsprechen die Bildung der Kanten des Pultes und dessen Querschnitt. Die Kanten sind kräftige, über Eck stehende und balusterartig sich vorwölbende Verstärkungen. Sie verkörpern am deutlichsten den Charakter des Möbels, das wie aus einer plastisch formbaren Substanz geformt erscheint, aber auch selber plastische Energie und Dynamik (Bewegungsfähigkeit) in sich trägt. Das Murnauer Gestühl kann als besonders geglücktes Beispiel eines bayerischen Rokoko gelten, dessen leichte, heitere und schwingende Eleganz immer eine menschliche Wärme behält.

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Anhang I

Die Kuppel von Ettal, ihr Bau und ihre Baumeister

Die Konstruktion
Die Kuppel von Ettal ist doppelschalig gebaut. Eine innere, einschalig gemauerte Rundkuppel ruht auf einem mit Eisenringen umfassten Kranzgesims und überspannt das Polygon des Zentralraums. Diese innere Kuppel hat knapp 27 Meter Aussendurchmesser (innen 25,3 m) und ist, weil am Scheitelpunkt für die Laterne abgeflacht, 12 Meter hoch.
Auf dem gleichen Kranzgesims ruht eine monumentale, kupfergedeckte Holzkuppel mit aufgesetzter Laterne. Diese Aussenkuppel hat unten einen Durchmesser von 30 Meter, steigt steil an und ist am Fusspunkt der Laterne 15 Meter hoch. Die Laterne misst weitere 12 Meter. Diese Zimmermannskonstruktion ist freitragend, sie belastet die gemauerte Kuppel nicht. Selbst die Laterne ist nicht auf der gemauerten Kuppel aufgesetzt

Der Bauablauf
Nach dem Brand 1744 wird in Ettal über die «italienische» Massivkuppel eine neue, höhere «deutsche» Aussenkuppel gebaut. Bauuntersuchungen belegen den Bauablauf wie folgt:

  1. Als erstes wird die «italienische» Rundkuppel gemauert, nachdem ihre Ringauflager aufgemauert und mit Eisenringen gesichert sind. Der Zeitpunkt der Kuppelerstellung ist umstritten, entweder ist sie eine Ausführung von Enrico Zuccalli [1] zwischen 1710 und 1715 (so die neue Hypothese) oder Joseph Schmuzer [2] baut Kuppelgerüst und Kuppel 1745/46 (so die alte Hypothese).
  Bild:Die Zuccalli-Kuppel von Ettal 1720 in einem Stich von Gottlieb Heiss (†1740).

2. Als zweites erfolgt 1747 der Bau der äusseren «deutschen» Kuppel. Der Zeitpunkt dieser Zimmermannsarbeit unter der Leitung von Schmuzer ist nicht umstritten.
3. Als drittes erfolgt der Abbruch des gotischen Gewölbes. Für das Verständnis der Bauabläufe (Fresken, Stuck) ist der Zeitpunkt des Abbruchs eines Massivgewölbes von grosser Wichtigkeit. Abgesehen von Norbert Lieb, der 1953 gar von einem Einsturz des gotischen Gewölbes während des Brandes schreibt, umgehen die Bauhistoriker und Bauhistorikerinnen dieses Thema. Nur Alexander Rauch legt im Dehio 2006 den Termin auf 1752 fest. Dies, weil am 19. Dezember 1752 der Abbau der tragenden Mittelsäule gemeldet wird. Das Datum irritiert. Schon Monate vorher beenden nämlich Maler und Stuckateure ihre Arbeit an den Wänden. Die Frage, wie und mit wem die Übergänge an den Wandauflagern des gotischen Gewölbes nachträglich gelöst werden, bleibt damit unbeantwortet. Und noch weniger einleuchtend ist der Abbruch einer frei im Raum stehenden Säule. Für das Kuppelgerüst wird sie sicher schon 1710 von Zucalli als mittleres Hauptauflager des horizontalen Gerüstbodens eingerechnet. Ist sie aber vielleicht auch von den Decken- und Wandgerüsten der Periode Schmuzer als Element miteinbezogen? Dann wäre der Abbruch der Gerüstung die korrekte Meldung für den 9. Dezember 1752. Das gotische Gewölbe muss zu diesem Zeitpunkt längst abgebrochen sein. [3]

Alte Hypothese
Die Mehrheit der Verfasser aller baugeschichtlichen Beiträge zu Ettal glauben, dass Zucalli zwar Planer der gemauerten Rundkuppel italienischer Art ist, ihr Bau aber bis 1715 nicht stattgefunden habe. Stattdessen soll Schmuzer 1745/47 Baumeister nicht nur der hölzerne Aussenkuppel, sondern auch der gemauerten Innenkuppel sein. Hauptargument der Zuschreibung an Schmuzer ist sein nicht verwirklichtes Projekt (1734/35) einer inneren Massivkuppel für Ottobeuren.

Gegenargumente
1. Warum sollte Schmuzer eine «italienische» Rundkuppel vorgängig mit grossem Gerüstaufwand mauern, um sie dann nicht für die äussere Dachhaut zu nutzen? Stattdessen erstellt er eine freitragende Aussenkuppel in anderer Form. Der knappe Platz am Gewölbefuss zwingt ihn, alle Aussenrippen der gemauerten Kuppel am Fussbereich abzuschroten. Die Aussenrippen sind in Ettal allerdings statisch nicht mittragend, sondern für die Auflage der Aussenhaut gerechnet. Ihr Vorhandensein weist auf die Erstellung durch Zuccalli.

2. Alle von Schmuzer gebauten Kirchen besitzen Innenkuppeln in Bohlen- und Gipslattenkonstruktion. Sein Massivkuppel-Projekt Ottobeuren ist (nicht gebaute) Ausnahme. Klöster wählen Massivkuppeln wegen ihrer Brandsicherheit und Stabilität und ziehen auch deswegen entsprechend erfahrene Baumeister zu. Dazu zählt Joseph Schmuzer nicht. [4]

3. Massivkuppeln, vor allem ihre aufwändigen Gerüste, sind kostspieliger als nachträglich erstellte Leichtbau-Innenkuppeln. 1745 verfügt Ettal über bedeutend weniger Finanzspielraum als 1709–1734. Dass zu Zeiten des Abtes Placidus für Ettal noch 1717/34 eine grosse gemauerte Kuppel kein unüberwindbares finanzielles Hindernis bedeutet, zeigt die Pfarrkirche Murnau.


Die neue Hypothese von Stefan M. Holzer und Bernd Köck (2008)
Eine Bauuntersuchung der beiden Spezialisten für historische Tragwerke Holzer und Köck bestätigt ältere Vermutungen: [5] Zuccalli ist nicht nur Planer, sondern auch ausführender Baumeister. Er kann bis zu seinem Weggang in einer ersten Bauetappe die Kuppel noch weitgehend realisieren. Wegen der sich verschlechterten Finanzlage der Abtei darf er anschliessend weder die Kirchenfassade beenden noch den inneren Umbau beginnen. Das alte Gewölbe von 1490 und der Innenraum bleiben vom Kuppelbau durch Zuccalli unberührt. Der Innenumbau der gotischen Kirche mit Abbruch des gotischen Gewölbes erfolgt ab 1745/46 durch Schmuzer, der auch die heute sichtbare Aussenkuppel baut.

  Argumente
Die Kuppel Zuccallis sollte in italienischer Art mit einer hinterlüfteten Blechhaut gedeckt werden. Er plant eine solche Kuppel schon 1674 in Altötting und führt in dieser Art bis 1685 die Kuppel an der Theatinerkirche in München aus. In Ettal erstellt er vorerst die Kuppel, um anschliessend den Innenraum umbauen zu können. Ein Porträt des Abtes Placidus könnte diese Etappierung bestätigen. Es stellt den Abt im Alter von 45 bis 50 Jahren dar, gemalt deshalb um 1720. [6] Auf dem Porträt ist der Bauplatz der Kirche realistisch und mit bemerkenswerten Details dargestellt. Der Nordturm der Kirchenfassade ist vollendet. Die Säulen der Fassade liegen noch im Hof. Die Kirche weist die alten gotischen Fenster auf, ist also im Innern noch gar nicht begonnen worden. Hingegen ist die Kuppel schon gebaut und mit einer Laterne bekrönt. Auch über diese präzise Kirchendarstellung, deren röntgenologische Untersuchung eine Übermalung (des nach alter Hypothese noch bestehenden turmartigen Zeltdaches) ausschliesst, wird in Fachkreisen gestritten. So glaubt Gabriele Dischinger (1977) an eine Mischung zwischen Idealdarstellung (Kuppel) und Realität (Fassade).
Viel gewichtiger als dieses zeitgenössische Bild sind allerdings die detaillierten Untersuchungen am Bauwerk durch Holzer und Köck, die den einzigen Schluss zulassen, dass die Kuppel zwischen 1710 und 1715 gebaut wird. Ob sie allerdings auch schon eine Laterne trägt, ist nicht zu belegen.
Porträt des Abtes Placidus Seitz
um 1715/20. Links ist in der Fenster-
öffnung die noch unvollendete Kirchen-
Westfront mit dem Hof als Baustelle zu
sehen. Die Zucalli-Kuppel ist bereits
gebaut. Bildquelle: Abtei Ettal. Mehr dazu
in der der Biografie des Abtes.
 

Schlussbemerkung
Den heutigen Besucher der Kirche dürfte es kaum interessieren, aus welcher Periode und von welchem Baumeister die gemauerte Kuppel stammt. Selbst für die generelle Architekturgeschichte ist dies völlig unerheblich. Wer sich allerdings mit barocken Bauwerken von Altbayern näher befasst, den stören nicht nur an der Baugeschichte von Ettal die vielen sich widersprechenden Zuschreibungen. Grund ist die ungenügende Quellenlage, vor allem für Klosterbauten des 18. Jahrhunderts in Ober- und Niederbayern. Tonnen von wichtigen Dokumenten werden schon 1803 vernichtet. Und was damals an Dokumenten der Barockzeit nach München gelangt, harrt, sofern deren Zerstörung nicht erst 1944 erfolgt, teilweise noch immer der Forschung. Ettal scheint aber ein spezielles Eldorado für Spekulationen zu den Künstlern und vor allem zu den Baudaten zu sein. Am Beispiel der Kuppelzuschreibung wird dies sichtbar. Zwar ist Joseph Schmuzer als Baumeister des barocken Wiederaufbaus dokumentiert. Der Bau der Aussenkuppel ist quellenmässig datiert. Alle anderen Baumassnahmen seines Bautrupps können weder zeitlich noch lagemässig eingeordnet werden. Zu völlig unnötigen Diskussionen führt seit Jahren vor allem die Zuschreibung des Baus der inneren Massivkuppel an Schmuzer. Selbst die Biografin Zuccallis übernimmt diese durch keine Quelle belegte Annahme. Noch 2006 wird Schmuzer als Baumeister beider Kuppeln im Dehio vertreten. Obwohl Kunsthistoriker- und Kunsthistorikerinnen wissen, dass ein Bauwerk eine ähnliche Aussagekraft wie eine Baurechnung oder ein Tagebuch haben kann, wird beim Fehlen von zeitgenössischen Quellen selten ein Gebäude interdisziplinär untersucht. In Ettal hat nun vorerst eine bautechnische Untersuchung der Kuppel stattgefunden. Seither weiss man, dass nie eine Grafik der 1720er- und 1730er- Jahre auftauchen wird, welche die Kirchenrotunde noch mit dem turmartigen Zeltdach zeigt.


Pius Bieri 2022

Literatur

Lieb, Norbert: Barockkirchen zwischen Donau und Alpen. München 1953.
Schnell, Hugo: Ettal. Grosser Kunstführer Band 3. München 1960.
Dischinger, Gabriele: Johann und Joseph Schmuzer. Sigmaringen 1977.
Holzer, Stefan M. und Köck, Bernd: Meisterwerke barocker Bautechnik. Regensburg 2008.


Anmerkungen

[1] Enrico Zuccalli (um 1642–1724) aus Roveredo. Er wird 1706 als Gefolgsmann des Kurfürsten von der kaiserlichen Administration aus dem Hofdienst entlassen. Von 1709–1715 ist er für Abt Placidus in Ettal tätig. Zu ihm siehe die Biografie https://www.sueddeutscher-barock.ch/In-Meister/s-z/Zuccalli_Enrico.html in dieser Webseite.

[2] Joseph Schmuzer (1683–1752) aus Wessobrunn, Baumeister und Stuckateur. Zu ihm siehe die Biografie in dieser Webseite unter: https://www.sueddeutscher-barock.ch/In-Meister/s-z/Schmuzer_Joseph.html.

[3] Das gotische Rippengewölbe steht nach Augenzeugen-Aussagen («khain gewölb ist eingefallen») 1744 unbeschädigt. Hätte die neue Massivkuppel den Fusspunkt an der gleichen Stelle wie das gotische Gewölbe, wäre dessen Abbruch 1745 in Betracht zu ziehen. Weil aber der Fusspunkt der Kuppel mit einem Tambour von 120 cm angehoben wird, kann diese mit dem alten Gewölbe an keiner Stelle in Kontakt kommen. Das gotische Rippengewölbe muss also für den Bau der neuen Kuppel nicht abgebrochen werden, was auch dem üblichen Bauvorgang bei Nutzung des Kirchenraums für den Gottesdienst entspricht.

[4] Schmuzer hätte mit geeigneten Subunternehmern sicher auch ein Kuppelgerüst und eine Massivkuppel bauen können. Ein Auftrag für die bedeutend teurere Massivkuppel ist nach 1744 aber nicht mehr denkbar. Abt Placidus und der neue Bauleiter P. Roman beachten schon nach dem Wegzug Zuccallis beim Bau des Chorgewölbes den Vorteil der Feuersicherheit nicht mehr. In Murnau, wo der Abt 1717–1734 durch P. Roman wieder eine Massivkuppel von 20 Meter Durchmesser bauen lässt, dürfte den städtischen Verantwortlichen die Einäscherung von 1703 durch die Tiroler noch präsent sein. Zudem wird in Murnau Zuccalli als Berater vermutet.

[5] Die These vom Bau der Kuppel 1710/15 wird schon 1970 durch P. Angelus von Waldstein-Wartenberg OSB vertreten, von Gabriele Dischinger 1977 aber vehement bekämpft.

[6] Obwohl bei Abtporträts die Bildunterschriften meist erst nach dem Tod gefertigt werden, datiert die Kunsthistorik trotz der jugendlichen Erscheinung des Abtes das Gemälde auf 1736, dem Datum seines Todes mit 64 Jahren. In der Regel werden aber die Porträts eher früher, wenn nicht gleich am Anfang der Regierung gemalt. Es könnte aus der Zeit des Aufenthaltes von Franz Georg Hermann (1723) stammen.

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