Die Meister des Bauwerks
Name Herkunft Text   Tätigkeit von   bis
Br. Caspar Moosbrugger OSB (1646-1723) Au Vorarlberg ok   Baumeister-Architekt 1685   1699
Franz Schmuzer (1676–1741) Wessobrunn ok   Stuckateur 1710   1712
Francesco Antonio Giorgioli (1655–1725) Meride Tessin ok   Maler, Freskant 1712   1713
Franz Carl Stauder (1660/64–1714) Konstanz ok   Maler 1711   1712
Johann Ritz (1666–1729) Selkingen Wallis     Altarbauer und Bildhauer 1709   1713
Br. Josef Bäz OSB (1666–1737) Schaffhausen     Kunstschlosser 1716   1724

Disentis
Benediktinerabtei und Kirche St. Martin

Die mittelalterlichen Bauten

Der Lukmanier, ein leicht begehbarer und schon zur Bronzezeit benutzter Alpenübergang, wird nach dem Verfall des Römerreiches wichtiger Handelsweg von Rätien ins langobardische Oberitalien. An der Verzweigung des Lukmanierweges mit dem Tal des Vorderrheins, an einem Südhang auf 1100 Meter Höhe, lässt sich um 700 der fränkische Wandermönch Sigisbert aus dem Kloster Luxeuil mit einigen Gefährten nieder. Der Ort wird «Desertina» genannt, was Wildnis bedeutet; die Gegend muss einsam und wüst auf die Klostergründer gewirkt haben. Aus der Mönchsgemeinschaft entsteht schon bald ein Kloster mit Benediktinerregel, das im 8. Jahrhundert mit grossen Schenkungen gefördert wird. Schon 765 stehen östlich der Abtei drei Kirchen parallel am Hang: St. Martin, St. Peter und St. Maria. Alle Kirchen werden um 800 durch Neubauten ersetzt. Eine reiche karolingische Stuckausstattung schmückt die neue Dreiapsidenkirche St. Martin. Parallel zu ihr, hangaufwärts, liegt die Peterskapelle und die zweite karolingische Kirche, St. Maria; auch sie mit drei Rundapsiden. Diese Kirchenfamilie steht bis zum Bau des barocken Klosters.
Das Kloster ist seit dem 10. Jahrhundert Reichskloster. Der Klosterstaat umfasst 715 Quadratkilometer. Die Besitzungen reichen bis in die Lombardei. Kaiser Otto rastet 965, den Lukmanier benutzend, in Disentis. Friedrich Barbarossa benutzt den Weg 1163, 1164, 1176 und 1186.
Die Reichsabtei hat im 13. Jahrhundert ihr goldenes Zeitalter hinter sich. Sie wird im 16. Jahrhundert in die Reformationswirren verstrickt und büsst die Feudalrechte im Klosterstaat weitgehend ein. Disentis tritt 1617 in äusserst labiler Lage in die Schweizerische Benediktinerkongregation ein, die sofort eine Klosterreform durchführt. Mit Hilfe der vitalen Abtei Muri wird die Abtei Disentis wieder belebt. Die Hohheit über den Klosterstaat verlieren die Äbte Mitte des 17. Jahrhunderts definitiv. Sie benutzen den Fürstentitel aber noch bis zur Französischen Revolution.

Der barocke Klosterneubau, 1685-1694

Die mittelalterlichen Gebäude des Klosters sind zu dieser Zeit, nach zwei Jahrhunderten des Niederganges, in schlechtem Zustand. Lediglich drei Räume sind für die nun wieder über zwanzig Mönche beheizbar, und die Zellen müssen doppelt belegt werden. 1675 ruft Abt Adalbert II. de Medell (1655–1696) Baumeister Daniel Glattburger nach Disentis. Glattburger hat soeben für  den Abt von St. Gallen den Ostflügel der Abtei erbaut. Er verfertigt Pläne für einen Neubau in Disentis. Vermutlich werden diese Pläne wegen der Finanzlage nicht weiterverfolgt. Vielleicht hat Abt Adalbert auch mit anderen Baumeistern weitergeplant. Er beginnt jedenfalls 1683 mit dem Niederlegen der Konventbauten, trotz noch mangelnder Finanzen. Aber im gleichen Jahr ist auch der 27 Jahre alte Br. Caspar Moosbrugger aus Einsiedeln zum ersten Mal in Disentis, wo er für den Neubau «etliche Riss» vorlegt. 1685, nachdem auch noch die mittelalterliche Martinskirche niedergelegt ist, wird der Klosterneubau begonnen. Wieder muss die Schweizerische Benediktinerkongregation eingreifen, sie erlaubt aus finanziellen Gründen nur den südlichen Teil des geplanten Konventbaus. 1694 ist der mächtige Bau vollendet, er hat mehr als 20 000 Gulden (Florin) gekostet.

Die Planung des Kirchenneubaus und die Meisterfrage (Exkurs)

1695 ist Caspar Moosbrugger zwei Monate in Disentis und zeichnet Risse zur geplanten Kirche, noch im Auftrag von Abt Adalbert II. Im gleichen Jahr ist der Einsiedler Klosterbruder nochmals in Disentis, um das Bauvorhaben zu besprechen. Adalbert II. stirbt 1696, noch vor Baubeginn. Moosbrugger führt die Verhandlungen nun mit dem Nachfolger Abt Adalbert III. und wird sich während der Rohbauphase noch mehrmals in Disentis aufhalten. Als «Operum Praefectus» wird Christian Giger genannt, die Gesamtleitung hat der Satthalter Pater Martin Huonder.
Akten über die Planung und den Kirchenbau sind nach zwei Brandkatastrophen an Ort nicht mehr vorhanden. Wir sind deshalb über den Bau und die Aktivität Moosbruggers nur durch Akten anderer Klöster, vor allem Einsiedelns, unterrichtet. Durchaus möglich, dass der bauinteressierte Abt Adalbert II. mit Vermittlung der Äbte von Rheinau oder Muri (beide haben sich in Disentis auch finanziell engagiert) auch andere Vorarlberger beizieht.[1]
Die Architektursprache der Klosterkirche und die Umstände weisen allerdings auf die Autorenschaft Moosbruggers hin:
Die Wandpfeiler der Kirche haben entlang der Fassade Durchgänge, deren oberer Abschluss erhöht liegt. Der Planer schafft damit die barocke Illusion einer von der Aussenwand losgelösten Wandpfeilerschicht, einer «Lichtrahmenschicht». Ein Querschiff steigert die Wirkung. Aussen ist diese innere Vielgliedrigkeit nicht sichtbar: Schiff, Querschiff und Chor sind in einen geschlossenen Rechteckblock gefasst, der quer zum Hang steht. Dies ist bei Moosbrugger denkbar, der ja die Kirche seines Lehrers Johann Georg Kuen in Pfäfers kennt und noch 1703 in Einsiedeln gleich kompakt plant. Zudem ist von Moosbrugger ein Grundriss für St. Ursen in Solothurn bekannt, der wie Disentis in ein strenges Rechteck gefasst ist und dem Disentiser-Grundriss auch sonst nahe kommt. Dieser vielleicht 1711 entstandene Plan[2] müsste eigentlich die letzten Zweifel an der Urheberschaft Moosbruggers beseitigen. Dass Moosbrugger für die Baumeisterarbeiten an Ort verantwortlich ist, kann aber ausgeschlossen werden. Vermutlich übernehmen einheimische Fachkräfte unter der Leitung der oben erwähnten Bauverantwortlichen die Ausführung.[3]

Neubau der Martinskirche 1696–1712

Der Kirchenbau entsteht unter Abt Adalbert III. de Funs (1696–1716), nach der Planung seines Vorgängers und mit dem Planer Br. Caspar Moosbrugger. Der letzte dokumentierte Aufenthalt des Vorarlberger Baumeisters aus dem Kloster Einsiedeln ist 1699, beim Bau der Kirchengewölbe.[4] Die Kirche kann 1704 benediziert werden. 1712 konsekriert sie der Nuntius Giacomo Caracciolo. Ihre Kosten betragen 90 000 Gulden. Die reiche Altarausstattung mit Werken des Johannes Ritz von Selkingen wird von den vermögenden Äbten der Klöster Muri und Rheinau gestiftet. Ihre Blätter malt Francesco Antonio Giorgioli und Franz Carl Stauder. Der Wessobrunner Stuck, um 1710 vermutlich von Franz Schmuzer erstellt,[5] ist heute nur noch unter den Seitenemporen, hier mit Camaïeu-Fresken von Giorgioli, sowie am Chorbogen erhalten. Man muss sich den damals erstellten Kirchenraum mehrheitlich weiss wie St. Urban vorstellen, da von Deckenfresken des 18. Jahrhunderts mit  Ausnahme der Emporenuntersicht nichts bekannt ist. Abt Gallus Deflorin (1716–1724) vervollständigt die Kirchenausstattung mit der Kanzel des Bruders Petrus Solèr und dem scheinperspektivischen Chorgitter des Bruders Josef Bäz.

Brandkatastrophen

1799 wird das Kloster, nach einem Massaker der Bevölkerung an den Besatzungstruppen des Generals Masséna, von den Franzosen als Vergeltung in Brand gesetzt. Die massiven Kirchengewölbe halten den Brand vom Kirchenschiff weitgehend fern, aber im Chor trägt das Gewölbe den eingestürzten Dachstuhl nicht und zerstört den Hochaltar. Der von den Franzosen ausgeraubte und nun mittellose Konvent wagt trotzdem den Wiederaufbau. 1846 stellt der Kanton Graubünden das verarmte Kloster unter Staatskontrolle. Im gleichen Jahr brennt das ganze Kloster wieder vollständig nieder. 1847 wird mit dem Wiederaufbau begonnen. Die Abteiflügel erhalten anstelle des Mansarddaches ein fünftes Stockwerk, die Scheinarchitekturen der Fassaden verschwinden. 1848 kann der Konvent wieder einziehen, im gleichen Jahr enteignen die Kantone Thurgau und Luzern ihre Klöster. Disentis entgeht diesem Schicksal knapp und erstarkt gegen Ende des Jahrhunderts, was sich auch im Neubau der Marienkirche (1895–1899) zeigt.

Restaurationen der Klosterkirche 1913–1926

Die Martinskirche hat die zwei Brände zwar überlebt, aber bei den anschliessenden Wiederherstellungen durch Maler und Stuckateure aus dem Tessin ihre barocke Aussagekraft verloren. Erst 1885 wird wieder ein barocker Hochaltar eingesetzt, er stammt aus Deggendorf in Niederbayern. 1913 beginnt eine Restauration[6] der Kirche, die erst 1926 abgeschlossen ist. Wesentliche Eingriffe dieser Periode sind die reichen Stuckaturen an den Gewölben und die Deckenbilder des Kirchenmalers Fritz Kunz. Die Bilder sind trotz hoher Qualität für den barocken Raum denkbar ungeeignet. Eine in den nächsten Jahren beabsichtigte Restaurierung[7] der Kirche wird aber am Konzept der Eingriffe von 1913–1926 nichts ändern.

Pius Bieri 2008

Benutzte Einzeldarstellungen:

Poeschel, Erwin: Die Kunstdenkmäler des Kantons Graubünden, Band V, Die Täler am Vorderrhein II (Kunstdenkmäler der Schweiz, Band 17 der Gesamtreihe), Basel 1943.
Müller, Iso: Der Disentiser Barockbau, in: ZAK Band 8, Heft 4. Zürich 1946. (siehe auch Link).
Müller, Iso: Geschichte der Abtei Disentis, Einsiedeln 1971.
Schönbächler, Daniel: Die Benediktinerabtei Disentis, Kunstführer GSK, Nr. 524/525, Bern 1999.

Links:

http://www.kloster-disentis.ch/
http://retro.seals.ch/digbib/view?rid=zak-003:1946:8::449
http://retro.seals.ch/digbib/view?rid=zak-003:1944:6::406
http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D11490.php

Anmerkungen:

[1] In Band V der Kunstdenkmäler des Kantons Graubünden vermutet Poeschel eine Mitautorenschaft von Franz Beer II  und Christian Thumb. Die beiden Baumeister sind zu dieser Zeit in Obermarchtal tätig. Viel eher ist eine Mitplanung des Lehrers von Br. Caspar Moosbrugger, des Vorarlbergers Johann Georg Kuen möglich, dessen Kirche von Pfäfers um diese Zeit schon steht.

[2] Grundriss B in fol.9b aus dem Planfund von 1950 in der Bürgerbibliothek Luzern, veröffentlicht von Adolf Reinle.

[3] Pater Iso Müller weist in seinem Artikel zur Baugeschichte in ZAK 8-1946 (Link: http://retro.seals.ch/digbib/view?rid=zak-003:1946:8::449) auf die Pfeiler hin, die sogar der Basen entbehren.

[4] Ausführung in Gneis-Naturseinmauerwerk.

[5] Nach Vollmer (1981, S 183) 1712, aber Werkstattarbeit des Schmuzer-Trupps. Nach Kösel (1969, S. 242) von Franz Schmuzer, aber 1710.

[6] Restauration als Begriff eines schöpferischen Eingriffes in das Denkmal, wie dies vor allem im 19. Jahrhundert üblich ist.

[7] Restaurierung als Begriff einer bewahrenden Reperatur und Konservierung des Denkmals.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  Benediktinerabtei Disentis  
  DisentisGrRiss  
Ort, Land (heute) Herrschaft (18. Jh.)
Disentis. Graubünden (CH) Grauer Bund in Graubünden
Bistum (18.Jh.) Baubeginn
Chur 1685
Bauherr und Bauträger

okAbt Adalbert II. de Medell (reg. 1655–1696)

okAbt Adalbert III. Defuns (reg. 1696–1716)
 
  Der Grundriss des Barockklosters, hier grau hinterlegt, mit den farbigen Grundrissen der Vorgängerkirchen. > Erläuterung. > Für Vergrösserungen Bild anklicken.   pdf  
   
Disentis1
Das Kloster von Südosten. Foto ©Menga von Sprecher.  
   
RekonstruktionBernet
Die Südfassade im Zustand der Barockzeit, mit der reichen Scheinarchitektur der Klosterfassade. Die weisse Architekturmalerei unterteilt die Fassade mit Säulen und rahmt die Fenster. Über den vier gemauerten Geschossen sind bis zum Brand 1799 zwei verputzte, aber gestaffelt zurücktretende Geschosse angeordnet.
Quelle: Rekonstruktionszeichnung von P. Hildebrand Bernet. ©Kloster Disentis.
 
Disentis2
Das Innere der Kirche St. Martin III, von der Westempore gesehen.  
DisentisChorgitter
Br. Josef Bäz erstellt zwischen 1716 und 1724 das filigrane Chorgitter mit den scheinperspektivischen Türöffnungen.
Quelle: Zeichnung von P. Hildebrand Bernet. ©Kloster Disentis.
 
DisentisSchnitt
Der Längsschnitt Nord-Süd verdeutlicht die ebenfalls auf Perspektivwirkung ausgelegte Tiefenstaffelung der Klosterkirche. Den zwei eingezogenen Chorjochen folgt das Querjoch mit den Seitenaltären und dann die Wandpfeiler-Emporen-Staffelung im Schiff.
Quelle: Planaufnahme 1933. ©Klosterarchiv Disentis.
 
Disentis4
Den (hier westlichen) Wandpfeiler-Emporenjochen mit den Kapellenaltären folgt das Querjoch mit den Seitenaltären.
Disentis5
Die Deckenfresken von Francesco Antonio Giorgioli und der Wessobrunner Stuck unter den Seitenemporen haben beide Kirchenbrände unbeschadet überstanden.  
Disentis1846
Im Oktober 1846 brennt das Kloster ein zweites Mal, nachdem es die Franzosen schon 1799 ein erstes Mal in Brand stecken. Der Einsiedler Pater Gall Morel zeichnet die Brandruinen wenige Wochen später. Nur die Marienkirche vom Ende des 10. Jahrhunderts ist unversehrt. Deutlich ist das nur noch im Schiff intakt gebliebene Gewölbe der barocken Martinskirche zu sehen. Quelle: Stiftsarchiv Einsiedeln.  
Disentis3
Der Hochaltar von Johann Ritz wird beim Gewölbeeinsturz und Brand von 1846 zerstört. Erst 1885 kommt der heutige Hochaltar an seine Stelle. Er stammt aus der Wallfahrtskirche zur Schmerzhaften Muttergottes auf dem Geiersberg bei Deggendorf in Niederbayern, die damal regotisiert wird. Der wertvolle Altar ist ein Werk von 1656 mit einer Kreuzabnahme von Johann Sepelius (1655). 1913 wird der Unterteil erhöht.
Für Vergleich >vergrössern.
 
Grundriss der barocken Anlage (grau hinterlegt) mit der mittelalterlichen Kirchenfamilie:
Schwarz   um 700   Oratorium St. Maria I.
Blau   8. Jh.   Pfeilerbasilika St. Maria II mit Taufbecken (oben).
        St. Martin I mit Placidus-Krypta (Unten).
Gelb   um 800   Karolingische Dreiapsidenkirchen St. Maria III (oben), Petruskapelle und St. Martin II (unten).
Rot   Ende 10. Jh.   St. Maria IV.
    Ende 12. Jh.   Glockenturm.
         
Nicht hinterlegt sind die im 19. und 20. Jahrhundert im Norden und Westen vervollständigten Flügel.