Innenarchitektur oder Innendekoration? Ein Exkurs

Boffrand «Dekorateur»?
Mit grosser Selbstverständlichkeit beschreiben Kunsthistoriker die Innenraumgestaltungen Boffrands als Dekoration. Im Werk «Germain Boffrand et le décor intérieur» unterteilt Bruno Pons 1986 in die «décoration civile» und die «décoration religieuse».[1] Was in der französischen Sprache noch harmlos tönt und als Abgrenzung des leichtfüssigen französischen Régence- und Rokoko-Ornamentes zur klassizistischen «reinen» Architektur verstanden werden kann, ist für die Raumausstattungen des süddeutschen Barocks nicht mehr übersetzbar.

BoffrandSoubise   Amalienburg11
Der Salon de la Princesse im Hôtel de Soubise, Paris, von Germain Boffrand 1735–1739.
Foto: Chatsam 2016 in Wikipedia.
  Der Spiegelsaal der Amalienburg im Garten von Nymphenburg entsteht gleichzeitig, als Gemeinschaftsarbeit von François Cuvilliés und Johann Baptist Zimmermann. Kann man die Architektur dieses Saales und damit auch der Amalienburg wirklich unter Dekoration abhaken? Foto: Bieri 2003.


Burckhardt und die moderne Kunstwissenschaft
1855 veröffentlicht Jacob Burckhardt seinen «Cicerone».[2] Er gliedert dieses kunsthistorische Grundlagenwerk in Architektur, Dekoration, Skulptur und Malerei. Zur Dekoration zählt er Stuck, Fresken und die feste Ausstattung mit Altären. Auch die Stein-«Dekoration» von Wand und Fassade fällt unter diesen Begriff, nicht aber die Skulptur und die Tafelmalerei. Burckhardt bezeichnet den Barock als «verwilderten Dialekt der Renaissance». Er bedauert die «Exzesse» der Dekorationen im Barock. Zwar ist die Beurteilung dieser «Exzesse» seit 1900 völlig anders. Aber die Grundlagen Burckhardts wirken nach. Noch immer wird der «reinen» Architektur und ihrem Schöpfer Priorität eingeräumt. Falls überhaupt, wird die «Dekoration» getrennt und nebenbei behandelt. Setzt sie sich über die Tektonik hinweg, wie dies im süddeutschen Spätbarock und Rokoko der Fall ist, kann der moderne Kunsthistoriker zwar die einmalige Leistung der «Dekorateure» erkennen, bedauert aber gleichzeitig, dass Maler, Bildhauer und Stuckateure nicht der Versuchung widerstanden haben, die Architektur zu dominieren.

Ein kunsthistorisches Unwort
Die Bezeichnungen Fassadendekoration oder Raumdekoration für Raumgestaltungen des süddeutschen und österreichischen Spätbarocks mögen langjährige Fachbegriffe sein. Die Sprache des Kunsthistorikers für den Beschrieb barocker Bauwerke darf aber heute nicht mehr diejenige Burckhardts oder französischer Klassizisten sein. Das Wort Dekoration für ein unauflösbares Ganzes, wie dies der Raum einer Rokokokirche darstellt, ist ein Unwort. Der Stuckateur, der Bildhauer, der Schreiner und der Maler werden so zu Dekorateuren herabgestuft. Das Wort wird heute zudem völlig anders verstanden. Es gilt vor allem für kurzfristige Modeinstallationen. Ein Dekorateur dekoriert Schaufenster. Dekor kann schmücken, ist aber immer nicht notwendiger Zusatz. Mit dem Begriff wertet man die wichtige Arbeit der Künstler im barocken Gesamtkunstwerk ab. Bei einer barocken Altarausstattung oder einer ikonografischen Inszenierung von Deckenfresken rückt der Begriff in die Nähe von Blasphemie.

Pius Bieri 2016

[1] Bruno Pons in: Germain Boffrand 1667-1754. L'aventure d'un architecte indépendant. Paris 1986. Der Begriff «décoration civile» ist in Frankreich allerdings schon damals für die militärische Brustdekoration mit Orden reserviert!

[2] Jacob Burckhardt: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel 1855.