El Escorial und die barocken Fürstabteien in deutschen Ländern

oder wie die Kunstgeschichte komplexe Abhängigkeiten vereinfacht.

Escorial
El Escorial in Madrid (1563–1584). Bildquelle: Wikipedia author Hpschaefer.
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El Escorial und die barocken Fürstabteien im deutschen Sprachraum

Der Planung von Wiblingen, und demzufolge auch von Tegernsee, Einsiedeln, Weingarten, Schussenried und Wessobrunn soll ein Schema zugrunde liegen, das architektonisch zum ersten Mal beim Bau des spanischen Klosterschlosses El Escorial in Madrid (1563–1584) in Anwendung kommt. So ist im offiziellen Führer der «Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg» zu lesen. Dieser Vereinfachung muss widersprochen werden. Sie weist den Bau-Prälaten und Baumeistern dieser Abteien die Rolle der Nachahmer zu. Mindestens muss es der architekturtheoretisch wenig bewanderte Leser eines Führers so sehen.
Tatsächlich haben der Escorial und die erwähnten deutschen Fürstabteien eine Gemeinsamkeit. Sie zeichnen sich durch die geschlossene, symmetrische Form mit dem «eingeschriebenen» Sakralraum in der Mittelachse des Rechteckblockes aus. Diese streng symmetrische Gebäudeanordnung hat allerdings gemeinsame Wurzeln in der frühen Renaissance. Schon 1457 ist er im Plan von Filarete (1400−1469) für das Mailänder Ospedale Maggiore voll ausgebildet.

Filarete
Ospedale Maggiore von Filarete oder Antonio di Pietro Averlino (~1400–1469), erbaut 1456–1465.
Bildquelle: Wikipedia (It).
FialreteOspedaleMilano
Ospedale Maggiore von Filarete. Die Fassadendarstellung Filaretes aus einer späteren Kopie seines «Trattato di Architettura, Libro XI, Tav. 59-60» (1461-1464).

Der Schlossbau des Escorials in Madrid aus dem 16. Jahrhundert ist (heute) eines der bekanntesten Renaissancebauwerke dieses symmetrischen Typus. Aber wie der kühle klassizistisch-barocke Schlossbau von Versailles kaum je architektonisches Vorbild für eine süddeutsche barocke Residenz wird, ist auch der Renaissancepalast des Escorial für die barocken Fürstabteien ohne jeden belegbaren Einfluss. Zwar wird der Neubau erstmals 1589 in Stichen veröffentlicht. In den wichtigsten Architekturlehrbüchern des 17. Jahrhunderts, meist Traktaten in der Nachfolge Vitruvius, erscheint er nicht. Eine Klosteranlage ist in den damaligen Lehrbüchern überhaupt kein Thema. Dafür erscheint 1604 ein Werk mit einer Rekonstruktion des Salomonischen Tempels, die vor allem in geistlichen Kreisen grosse Beachtung findet.[1]

Villalpando
Die Fassade des Salomonischen Tempels in der Rekonstruktion (1604) von Juan Bautista Villalpando (1552−1608) aus Cordoba. Die Tempeldarstellung erscheint 1604 in Rom. Sie ist in den Klosterbibliotheken sofort präsent. Bildquelle: Wikipedia.

Der Salomonische Tempel hat die oben beschriebene Gebäudetypologie. Im deutschsprachigem Gebiet wird 1619 erstmals das Chorherrenstift Vorau in der Steiermark als derartig vollsymmetrische Klosteranlage geplant. Ob der Vorauer Propst Daniel Gundau überhaupt Notiz von der Veröffentlichung über den Escorial nimmt? Vielleicht kennt er die Darstellung des rekonstruierten Tempels Salomons. Eher wird er allerdings in den damaligen Architekturtraktaten in der Nachfolge des Römers Vitruvius, wie den Lehrbüchern des Serlio, des Palladio oder des Vignola blättern, die alle ausschliesslich absolut symmetrische Anlagen vorstellen und die auch die Grundlage für den Escorialpalast darstellen. Vorbilder der deutschen Prälaten und der deutschen Baumeister am Anfang des 18. Jahrhunderts sind aber Bauwerke mit ähnlichem Bauprogramm und gleicher Nutzervorstellung, seien sie gebaut und veröffentlicht oder erst geplant. Ein über 150 Jahr altes spanisches Königsschloss mit integriertem Kloster ist dazu denkbar ungeeignet.

VillalpandoGrundriss   Escorial
Grundriss des Salomonischen Tempels in der Rekonstruktion von Juan Bautista Villalpando (Rom 1604).   Grundriss des El Escorial in Madrid. Bildquelle: Dehio, Kunstgeschichte in Bildern. Leipzig und Berlin 1899.

Man betrachte einmal den Grundriss des Escorial! Jedes deutsche Barockkloster ist besser organisiert! «Man sollte den Einfluss des Escorials als Bauwerk auf die Klosterarchitektur der Fürstabteien des Barock nicht überschätzen. Die deutschen Klösterschlösser entwickelten ihr Bauschema aus weitverzweigten Wurzeln» schreibt Wolfgang Braunfels in einem Aufsatz über den Escorial.[2] Das «Escorial-Schema» sollte vergessen werden. Peinlich ist der Vergleich vor allem dann, wenn das Kirchenbauwerk wie im «Schwäbischen Escorial» (so wird Ottobeuren genannt), nicht in der Achse des Klostergevierts «eingeschrieben», sondern vorgehängt ist.

Vorau   WiblingenGoogle
Augustiner-Chorherrenstift Vorau in der Steiermark, geplant 1619, begonnen unter Propst Daniel Gundau (reg. 1615–1649). Das Schema einer Rechteck-Anlage mit zwei Höfen beidseits der Kirche ist hier mustergültig erstmals im deutschen Sprachraum ausgebildet. Mit dem «Escorial-Schema» ist diese Anordnung weniger verwandt als mit den symmetrischen Lösungen der italienischen Renaissance.
Quelle: Bildschirmfoto © Google Earth.  
  Benediktinerabtei Wiblingen, geplant 1714 von Christian Wiedemann. 100 Jahr später das gleiche Schema wie Vorau. Escorial als Vorbild? Wahrscheinlich doch eher schon gebaute Klöster mit dem gleichen Bauprogramm und dem Schema Vorau (Tegernsee, Schlierbach, Schäftlarn). Bekannt ist seit spätestens 1708 auch der Klosterneubau in Einsiedeln.
Einsiedeln1708
Einsiedeln, mit zwei symmetrischen Höfen beidseits der Kirche noch am ehesten dem «Escorial-Schema» ähnlich, und trotzdem ohne jeden Zusammenhang mit dem spanischen Bauwerk, wird 1708 in einem Augsburger Stich vorgestellt. Anzunehmen ist, dass Einsiedeln und nicht das spanische Königsschloss das Vorbild von Abt Modest I. und seinem Baumeister Wiedemann ist.
Bild: Stich von Johann Georg Kilian in den Graphischen Sammlungen Einsiedeln.

Anmerkungen:

[1] Verfasser ist Juan Bautista Villalpando (1552−1608) aus Cordoba. Der zweite Band mit der Tempeldarstellung erscheint 1604 in Rom.

[2] Wolfgang Braunfels: Abendländische Klosterbaukunst, Köln 1969.

Pius Bieri 2012

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